Lange hatte er mit sich gerungen, bevor er den Entschluss gefasst hatte. Gleich würde er in die Tiefe springen. Oder würde ihn der Mut im letzten Moment doch noch verlassen?

Er dachte mit einem Anflug von Resignation daran, wie freudlos und eintönig sein Leben in den vergangenen Jahren geworden war. Wie hatte es dazu kommen können?
Früher war er häufig in Gesellschaft und, weil er so unterhaltsam war, gern gesehener Gast auf jeder Party. Und wenn sich mal das Schicksal gegen ihn verschworen zu haben schien, trug er es mit Humor und lachte die Sorgen einfach weg. Freilich gab es damals auch Momente, in denen kein Lachen half. Er blieb nicht verschont vom Tod geliebter Menschen, von schmerzhaften Trennungen, vom Verrat vermeintlicher Freunde. Dann konnte es schon geschehen, dass er sich ins stille Kämmerchen zurückzog und den Schmerz oder die Enttäuschung aus sich herausheulte. Doch die Trauer ging vorbei und es dauerte nie lange, bis er seinen Optimismus wiederfand.
Jeden neuen Tag begrüßte dieser Mann, der er einmal war, in freudiger Erwartung neuer Erlebnisse und Herausforderungen. Selten wurde er enttäuscht, denn es gab immer wieder etwas zu entdecken und Begegnungen mit vertrauten Menschen oder solchen, die es erst noch kennen zu lernen galt.
Wie konnte es dazu kommen, dass er sich so verändert hatte? Eine Antwort darauf wusste er nicht. Gewiss wachte er nicht eines Tages auf und war plötzlich ein Anderer. Kein schwerer Schicksalsschlag, keine Katastrophe bot eine Erklärung für seine Wandlung. Es war wohl eher das, was man einen schleichenden Prozess nennt.
Nach und nach kamen ihm Freunde und Bekannte abhanden. Er tat wenig, um den Kontakt zu ihnen aufrecht zu erhalten. Und wenn er doch dem einen oder anderen begegnete, wirkte er müde und in sich gekehrt. Niemand, mit dem man sich gern umgab.
Sein Dasein wurde zur Routine. Wenn er nicht musste, verließ er seine Wohnung nur noch selten. Der Fernsehapparat ersetzte ihm zunehmend das Leben.
Manchmal, wenn er an der Monotonie zu ersticken drohte, nahm er sich vor, am nächsten Tag ganz neu zu beginnen und sich das Verlorene zurück zu erobern. Ein unerfülltes Versprechen an sich selbst. Was nützt es, wenn einer den Aufbruch plant und dabei versäumt, sich Gedanken über das Wohin zu machen?
Er hatte schlicht und einfach den Anschluss verloren. Und er hatte es über einen langen Zeitraum hinweg nicht einmal bemerkt.
Der bittere Moment der Erkenntnis traf ihn beim Arzt. Nein, es war keine böse Diagnose, die ihm den Boden unter den Füßen wegriss. Es ging lediglich um einen harmlosen, unbedeutenden Eingriff, der erwogen wurde. In Vorbereitung auf die Operation (die sich letzten Endes als überflüssig erwies) wurden die üblichen medizinischen Fragen abgeklärt. Dann aber kam eine Frage, auf die er keine Antwort hatte. Man wollte von ihm wissen, wer im Fall des Falles benachrichtigt werden solle.
Nie zuvor hatte er sich so einsam und verloren gefühlt wie in diesem Augenblick. Mit einer unbarmherzigen Klarheit erkannte er, dass er so nicht weiterleben konnte, nicht weiterleben wollte.

Er rang noch immer mit sich. Er spürte die Angst, die sich durch seine Eingeweide fraß. Noch konnte er umkehren. Sein Herz schlug so heftig, als würde es in der nächsten Sekunde in seiner Brust explodieren und ihm so die Entscheidung abnehmen.
Dann sprang er. Im freien Fall ließ er alle Ängste hinter sich und er spürte die Erlösung.

Und dann öffnete sich der Fallschirm und riss ihn nochmal in die Höhe, bevor er sanft zur Erde und in sein neues Leben schwebte.


© Hans-Jörg Große (2015)


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Beschreibung des Autors zu "Im freien Fall"

In dieser Kurzgeschichte geht es um bittere Einsichten und um einen Entschluss.

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Kommentare zu "Im freien Fall"

Re: Im freien Fall

Autor: axel c. englert   Datum: 27.05.2015 9:54 Uhr

Kommentar: Ein astreiner Blick – in einen Kopf…
Mit feiner Pointe! (Herz macht: KLOPF!)

LG Axel

Re: Im freien Fall

Autor: possum   Datum: 28.05.2015 0:05 Uhr

Kommentar: Tolle Sache steht hier! LG!

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