Wer bin ich? Es wird Zeit, mich von dieser Frage abzuwenden, sonst lebe ich gefährlich! Dann kann ich im entscheidenden Moment nicht loslassen – und leide. Vielleicht hilft es mir, mich darauf vorzubereiten, indem ich meine Gedanken niederschreibe.
„Wer“ ist jahrzehntelang mein Freund gewesen. Ich habe ihn – nein, „geliebt“ wäre zu viel gesagt – habe versucht, mich weitestgehend mit ihm zu identifizieren, zumindest was seine guten, erfolgreichen Seiten angeht. Doch nun, da er in die Fänge eines totalitären Regimes geraten ist und daran zu zerbrechen droht, muss ich ihn aufgeben …
Zuerst einmal ist es wichtig, alle Spiegel abzuhängen oder zumindest das Gespenst, das ich darin erblicke, zu ignorieren. Nur wenn überhaupt kein Zusammenhang mehr zwischen ihm und mir besteht, werde ich handeln können oder, anders ausgedrückt, imstande sein, der Handlung, die er unweigerlich ausführen muss, beizuwohnen.
Zunächst dürfen wir einfach nicht länger zusammen gesehen werden! Dabei ist es völlig unwichtig, ob das anderen auffällt oder nicht. Wir haben nichts mehr miteinander gemeinsam. Auch die Erinnerung nicht. Ab heute darf es ausschließlich seine Erinnerung geben. Sei sie auch so angenehm, wie sie wolle. Sie hat keine Bedeutung für mich! Denn aus der Bedeutung erwächst eine Pflicht, und eine Pflicht ihm gegenüber möchte ich nun kategorisch ablehnen.
An ihm haftet etwas Unannehmbares, etwas Abscheuliches, bei dem ich nicht mehr zulassen kann, daß es von mir weiterhin Besitz ergreift. Lange genug war ich gewissermaßen eins mit dem Kerl. Lange genug habe ich zugelassen, daß er mich in die Irre führt, für die er zwar kaum etwas konnte, die jedoch jederzeit ihren Mantel über uns beide ausgebreitet hat – nicht bloß über ihn!
Jede Art von Rücksicht ist also ab sofort fehl am Platz! Ich muss ihn jetzt, da ich ihm absolut nicht länger helfen kann (das konnte ich ja noch nie, obwohl ich es aufrichtig versucht habe), seinem Schicksal überlassen, seinen falsch getroffenen Entscheidungen, den Spätfolgen seiner schlechten Erziehung, den nicht für ihn gemähten Wiesen, auf die er traf, seinem … wie auch immer man es nennen mag. Und ich muss mir vor Augen führen, daß dies das unwiderrufliche Ende unserer Freundschaft ist. Alles, was er ab jetzt empfindet, darf ich nicht mehr mitempfinden. Wenn er sich ein Bein bricht, darf ich keinen Schmerz spüren, und wenn er erfriert, dann muss er genug Schnaps dabeihaben, damit sämtliche Eindrücke, die mir sein Körper vermitteln möchte, hinuntergespült werden können in einen seligen Grund.
Ich hoffe, der Winter dauert noch recht lange, damit ich mich darauf vorbereiten kann. Ich werde ihm gleichgültig in den Wald folgen – vorher natürlich tunlichst alle Spiegel vermeiden. Dort werde ich ihn veranlassen, sich auf die eisige Erde zu setzen und den Mantel zu öffnen. Dann befehle ich ihm zu trinken!
Ich suche mir derweil einen süßen Traum heraus, der aber nicht aus unserer gemeinsamen Erinnerung kommen darf (denn die haben wir ja nicht), und dann werde ich warten, bis er sich endlich geschlagen gibt.
Mich – so hoffe ich – werden dann irgendwelche Leute, Zustände, Schemen, abholen. Mich, denjenigen, der mit der Geschichte meines Freundes nur am Rande zu tun hatte, in guten und in schlechten Tagen sozusagen.
Das einzige Problem dabei ist: Wer bin eigentlich ich?

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt

© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt

Autor: ulli nass   Datum: 14.02.2022 9:43 Uhr

Kommentar: Die Frage stellt sich in der Tat Alf. Die Antwort kann uns ein Leben lang beschäftigen. Sie kann bei entsprechender Begabung und mit intensvem Bemühen zu befriedigenden Antworten führen.
Ich bin der Meinung, nur unter Beanspruchung des 'Gehirnschmalzes' aller klugen Menschen, die schon gelebt haben oder noch Leben(es gibt sie) Philosophen, Schriftsteller, Physiker, Biologen, Informatiker,Soziologen etc. usw. - oder in der Kneipe. (früher zumindest)
Im Sud der eigenen Gedanken drehen wir uns zwangsläufig im Kreis.Leider. Erst in der Wechselwirkung mit den Genannten und dem 'Verdauen' ihrer 'Weisheit' und dem selbst erlebten Leben entsteht dann meine eigene.
Die legendäre ' creatio ex nihilo' ist ein Illusion. Wir sollten das nicht als Verletzung oder Bedrohung unseres Egos verstehen.
Ein wenig Gelassenheit und Demut steht uns an, sind wir doch schon im achten Lebensjahrzehnt angekommen.
Selbsterkenntnis ( so weit sie möglich ist) erfordert übrigens immer wieder viel Mut. Vieles was ich über mich, mein Wesen, herausfand, gefällt mir überhaupt nicht. Infam ist, dass wir uns oft vergeblich abmühen, die erkannten Deformationen zu verbessern.
Also, weiterhin viel Spaß auf dem Weg zu Dir selbst. Ich befürchte, das Ziel ist nicht wirklich errreichbar. Das halte ich für OK. Leben bedeutet auch, sich von Illusionen zu verabschieden.
Schopenhauer hat wohl recht mit dem Hinweis, dass man letztlich gegen eine Wand läuft, wenn mann sich selbsr? zum Ojekt der Beforschung macht.
Ein Weltbild zu entwickeln ist übrigen aus meiner Sicht völlig unabhängig von der Klärung der Frage nach unserem 'Selbst'.
Diesbezüglich ist mein Lebenswerk wohl zumindest beendet. Immerhin.
Sie mir die spontanen Ausführungen nach, Alf.
Es war mir gerade danach. Ich glaube, da ist morgens der starke Kaffee mitverantwortlich. Manchmal.
Lb. Grüße, schöne Woche
ulli

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 14.02.2022 17:52 Uhr

Kommentar: :-)) Dir auch eine schöne Woche lieber Ulli und vielen Dank für dein Statement!

LG Alf

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt

Autor: Jens Lucka   Datum: 14.02.2022 21:39 Uhr

Kommentar: Ich mache mir auch oft Gedanken wer mein Inneres programmiert hat und weshalb gerade so .

Gruß, Jens

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten / 188. Schritt

Autor: Alf Glocker   Datum: 15.02.2022 7:39 Uhr

Kommentar: ..ja, das glaub' ich!

Gruß
Alf

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