Es war einmal ein Ohr
Das den Gefallen am Hören verlor.
Jap, das bin ich.
Wer bitte ist schon gerne Ohr? Immer, wenn die Sinne aufgezählt werden, geht es als erstes ums Sehen. Ja, Auge müsste man sein. Das sieht schön aus. Die Augen sind das Fenster zur Seele. Das Ohr… eher weniger. Also, ja, in Aufzählungen heißt es immer “sehen, hören, riechen, schmecken, tasten…” Nur die Nase ist noch schlimmer dran als ich. Igitt, wer ist schon gerne eine Nase! Allein die ganze Rotze, die da produziert wird. Nein, Nase wäre ich auch nicht gerne. Aber als Ohr ist man wirklich nur unwesentlich besser dran. Ohrenschmalz ist wie Rotze in trocken. Also vielleicht das kleinere Übel, aber immer noch eklig.
Und nicht nur das! Als Ohr wird man nicht mal für voll genommen. Wie viele Sinne gibt es? Genau! Fünf! Oder vielleicht doch nicht.
“Jetzt komm mal wieder runter!” Da ist dieser verfluchte sechste Sinn! Der eigentlich Teil des Ohres ist, aber es aus irgendeinem Grund irgendwie geschafft hat, als eigenständig zu gelten. Der Gleichgewichtssinn! Vollkommen ohrenschmalzfrei! Und dabei lernt man schon in der Schule, dass die kleinen Knöchelchen ein Teil des Innenohres sind! Ja, richtig, von mir. Dieser Freund von mir, denn das ist er theoretisch, ist wie mein Sidekick! Mein Wurmfortsatz. Der könnte ohne Darm auch nicht existieren. Und ist ähnlich unnütz, wie eben die Geschichte mit dem Gleichgewicht.
Also, ja. Wieso sollte ich weiterhin Ohr sein wollen, wenn mir nur Undankbarkeit und keine Wertschätzung entgegenschlägt? “Hörst du dich eigentlich manchmal selbst reden?” Da ist wieder das Gleichgewicht. “Ha! Das war ein Wortwitz!” Keine Ahnung, wie ich mit dem auf so engem Raum weiterhin zusammenarbeiten soll! Urgh. Zum Glück können Ohren nicht kotzen. Obwohl, vielleicht wäre es sinnvoll, wenn wir es könnten. Dann wäre der Ekelfaktor größer und es wäre verständlicher, warum Ohren nicht auch mal als sexy gelten können.
“Chill mal! Und mach das, was du am besten kannst! Und damit meine ich nicht, in Selbstmitleid versinken.” Das nächste Mal, wenn irgendwelche Bakterien eindringen wollen, werde ich sie einfach durchlassen. Ganz easy! Blödmann! Das, was ich am Besten kann… Ja, schon klar, dass das Hören ist!
Ich merke überdeutlich, wie die Augen auf mich warten, die Nase, der Mund und auch die Haut. Was ist deren Problem? Sollen die doch Ohr werden! Ganz leise dringen Klänge durch den Gehörgang. Kein Lärm, keine Bakterien. Nur Klänge, Töne, ein Lied. Ja, Musik mag ich. Musik, das einzige, wo wir Ohren noch etwas zu sagen haben - ja, auch mir bleibt dieser Wortwitz nicht verborgen. Und, ok, wir sind wichtig, wenn es ums Zuhören geht. Gäbe es überhaupt Freundschaften, wenn keiner zuhört? Gäbe es Musik? Poesie? Wenn es keine Ohren gäbe? Vielleicht sind wir doch nicht so unwichtig, wie ich dachte.
“Na, ist deine Existenzkrise für heute erledigt?”
Eigentlich bin ich gerne Ohr. Nur der Gleichgewichtssinn, den mag ich so gerne, wie Brokkoli. Leider hörte ich, selbst der habe seine Daseinsberechtigung. Er ist nämlich gesund. Nur halt nicht, wenn man ihn ins Ohr steckt.


© Eveline Martini


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Kommentare zu "Das Ohr"

Re: Das Ohr

Autor: Michael Dierl   Datum: 21.06.2024 23:14 Uhr

Kommentar: ;-) gern gelesen! Sehr schöne Geschichte oder sollte ich sagen Deine Einstellung zu Deinen Sinnesorganen! Teil 2. könnte demnach heißen: Wenn Dein Auge mehr hört als es sieht dann wird man weise....usw. :-)

lg Michael

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