Radfahrer

Ich kannte ihn nur flüchtig, eigentlich gar nicht, werde ihn nie kennenlernen. Er wohnte ein paar Häuser weiter, nur ein paar Häuser weiter, aber soweit weg, dass es unmöglich schien sich näher zu kommen.
Er wirkte sympathisch, er hatte freundliche Augen, stets ein Lachen im Gesicht. Sein Kopf war kahl, es passte zu ihm. Im Winter trug er eine schwarze Mütze. Überhaupt, er trug immer schwarz, auch die Hose und sein T-Shirt. Seine Erscheinung war sportlich, durchtrainiert. Es war schwer zu sagen, wie alt er war, vielleicht fünfunddreißig oder vierzig.
Wenn wir von ihm sprachen, nannten wir ihn nur kurz den Radfahrer. Jeder von uns wusste dann sofort, wer gemeint war.

Immer wenn ich ihn sah, fuhr er mit seinem Rad. Wenn er an unserem Garten vorbei fuhr, rief er nur kurz aber freundlich: „Hallo!“ Schon war er wieder weg.
Selten, aber es kam vor, dass ich ihn an der Ampel, wenn ich die Straße überqueren wollte, traf. Auch dann grüßten wir uns kurz: „Hallo!“ Lachten uns an und gingen, beziehungsweise fuhren un-serer Wege.

Einmal kam es vor, das wir gemeinsam die Straße entlang gingen. Sein Fahrrad war kaputt, der Rei-fen hatte einen Platten. Folglich schob er sein Rad.
„Ich weiß schon gar nicht mehr, wie man läuft“, sagte er lachend, „ich fahre schon seit so vielen Jahren Rad, das ich schon gar nichts anderes mehr kann.“
„Klappt doch aber ganz gut, das Laufen“, antwortete ich und lachte zurück.
Wieder trennten sich unsere Wege, er war zu Hause, ich musste noch ein Stück weiter.

Die Zeit verging, oftmals sah man sich nur von Weitem. Dann löste er eine Hand vom Lenker und schwenkte seine Hand zum Gruß. Ich grüßte zurück.
Der Herbst kam mit seinem Regen. Zu dieser Zeit sah man sich eigentlich nicht, da der eigene Kopf von einem Regenschirm verdeckt war. Abgelöst wurde der Regen, vom Winter. Es folgte Schnee und Eis. Schwerfällig stapfte ich, wie alle anderen, durch den Schnee, war froh endlich zu Hause zu sein.
Wenn das Wetter all zu schlimm war, versuchte ich einen Bus zu erwischen. Aber auch der war nicht pünktlich. Also stellte ich mich in einen Hauseingang, mit verschränkten Armen auf den Bus wartend. Das erschien immer noch besser, als das ganze Stück bergauf zu laufen.
Während ich schon leicht angefroren, da stand und sehnsüchtig in die Richtung des hoffentlich an-kommenden Busses sah, kam er angefahren. Er trotzte dem Wetter.
„Ich würde Sie ja mitnehmen, auf meinem Rad, aber ich glaube Sie trauen sich nicht vor mir auf der Stange zu sitzen!“, rief er mir zu und lachte.
„Ich glaube eher Sie trauen sich nicht mich vor sich sitzen zu haben!“, rief ich lachend zurück.
Schon war er wieder weg und der Bus kam.

Mit dem Frühjahr kamen die Narzissen und er kam wieder an unserem Garten vorbei gefahren.
Wie immer kurzes Hallo und wieder weg. Es änderte sich nichts, weder bei ihm noch bei mir oder uns.
Wir nahmen es hin. Er wohnte schließlich ein paar Häuser weiter weg.

„Hast du das mitbekommen?“, fragte man mich.
„Was mitbekommen? Ich bin doch nie da! Wie soll ich da was mitkriegen?“
„Meine Tochter hat es mir erzählt! Die Polizei war da, viel Polizei und ein Krankenwagen.“
„Wo? Nein ich habe nichts gesehen, nichts gehört.“
„Na da hinten, ich glaube es ist das vierte Haus von rechts, auf der anderen Seite.“
„Na und? Wer wohnt da eigentlich? Was war da los?“

„Ich weiß den Namen nicht, aber gleich hinter der diesen du weißt schon wer und du hast wirklich nichts mitbekommen? Gestern Abend, so gegen sechs!“
„Nein, ich war zwar noch an der Mülltonne, aber das war es auch. Gesehen habe ich nichts. War mal wieder was Aufregendes?
„Der Radfahrer, er ist tot!“
„Nein! Wie alt war der denn? Hab ich den nicht erst gestern gesehen?“
„Nein, das kann nicht sein. Er hat schon seit Wochen tot in seinem Haus gelegen. Wenn nicht die Nachbarn die vielen Zeitungen vor seiner Tür liegen gesehen hätten, würde er wohl noch immer da liegen.“
„Der Radfahrer …?“


© IDee2000


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Kommentare zu "Radfahrer"

Re: Radfahrer

Autor: noé   Datum: 19.05.2014 1:17 Uhr

Kommentar: Das ist eine erschütternde Geschichte. Man weiß schon zu Anfang, wie sie ausgehen wird, aber sie ist so gut erzählt, dass man dran bleibt...
noé

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