DES NACHBARN SCHÖNE PFERDE

Du sollst nicht begehren!... Mein Gehirn drescht diese Phrase, während ich die schönen Pferde des Mieters gegenüber beobachte – und begehre. Ich hätte die Überwachungskameras dieses unförmigen Kerls hacken können. Aber ich bevorzuge das gute alte Fernglas. Ich begehre dieses optische, kleine Wunderwerk, das die Illusion wirklicher Distanz aufrecht erhält. Ein Kamera-Hack lässt sich zurückverfolgen. Wenn du den Feind auf diese Art sehen kannst, blickt der Feind auch irgendwann zu dir zurück. Deine IP Adresse könnte dich verraten. Und was sind wir seit dieser verdammten Pandemie anderes, als IP Adressen? Wir sind seit einer gefühlten Ewigkeit Gesichter, die in Webcams blicken, mit Stimmen, die meist zerhackt und wenig lippensynchron unser unnützes Geschwafel durchs Internet wabern lassen. Ich vermisse den Mundgeruch meines Arbeitskollegen. So hätte ich wenigstens einen Grund ihn zu hassen. Aber jetzt sind alle für mich nur noch virtuell. Deshalb habe ich diese Obsession für des Nachbarn schöne Pferde entwickelt. Diese Pferde sind real. Im Internet ist nichts real. Nicht für mich!

Der schwarze Hengst steht die ganze Zeit über im Badezimmer und beobachtet sich im Spiegel. Die weiße Stute steht reglos im Schlafzimmer, vor dem großen Doppelbett. Ich frage mich, wieso dieser unförmige, übergewichtige, unsymmetrisch gewachsene Kerl zwei so schöne Pferde hat. Was stellt er damit an? Was trieb er vor der Pandemie mit diesen Tieren? Bevor wir nicht mehr auf die Straße durften, war der Typ noch schlank und rank aber nicht weniger unsymmetrisch. Der konnte sich doch niemals auf einem Pferd halten, geschweige denn, auf einem reiten. Jetzt hat er sich durch Pizza, Fast Food und alles was man anliefern kann, kugelrund gefressen. Das arme Schwein passt nicht mehr durch die Wohnungstür. Er wird auf ewig in seiner Bude gefangen bleiben. Aber der Punkt ist der; Er besitzt diese Pferde. Ich nicht. Das wurmt mich. Ich muss es leider zugeben.

Auch ich könnte derzeit mit den Pferden nicht ausreiten. Auf der Straße wird jeder verhaftet oder erschossen. Aber an wen sollen wir unsere Viren weiter geben, wenn ohnehin keiner mehr draußen ist? Wir wissen alle schon längst nicht mehr, was wirklich in der Welt vor sich geht. Die Realität besteht für uns alle nur noch aus News-Feeds, Fake-News, TV, Streaming-Diensten, hohlen Einsen und Nullen, die uns eine Realität vorgaukeln sollen. Aber nichts von alldem ist real. Selbst das Wort Realität klingt so, wie billiger, abgegriffener Kunststoff sich anfühlt. Für mich ist nur noch real, was ich durch mein Fernglas sehe. Licht wird von Objekten oder Lebewesen reflektiert und fällt durch die Gläser, die durch ihren Schliff und ihre Anordnung, meinen Weltausschnitt vergrößern. Meine Realität besteht derzeit nur noch aus zwei edlen Pferden, die leider nicht mir gehören. Das gehört geändert!

Der Unförmige scheint ohnehin mit seinem Sofa verwachsen zu sein. Ich muss nicht befürchten, dass er meinen Plan durchkreuzt. Zu sehr drückt ihn die Schwerkraft ins Sitzpolster. Er wird sich in diesem Leben nicht mehr erheben können. Vor meine Haustüre gehen kann ich nicht, ohne das Risiko einzugehen, verhaftet zu werden. Das Gebäude gegenüber zu betreten ist also keine Option. Aber ich kann eine Brücke von Fenster zu Fenster bauen, die Pferde durch die Fenster zwängen, über die improvisierte Brücke transportieren und in meine Wohnung verbringen.

Das Material für meine Brücke besteht aus Postkarten, die ich aneinander tackern kann. Ich betrachte wehmütig die Urlaubsorte die auf den Postkarten zu sehen sind. Paradiesische Orte, die einst Onkel und Tanten, Freunde und Arbeitskollegen besucht haben, bevor diese verdammte Seuche die Welt außerhalb unserer Wohnungen getilgt hat. Existieren diese traumhaften Orte der Freiheit überhaupt noch? Sind dort die Menschen auch dazu verdammt, in ihren Wohnungen zu bleiben? Haben diese Orte je existiert, oder war das alles nur Kulisse, um uns Stubenhocker eine Welt außerhalb der eigenen vier Wände vorzugaukeln? Ich glaube inzwischen gar nichts mehr! Ich glaube nur noch an diese zwei Pferde, die ich mir holen werde! Diese Tiere werden mein Realitätsbeweis sein! Andernfalls muss ich annehmen, ich sei der einzige Mensch auf der Welt und die karge Welt um mich herum nur eine Illusion.

Um Mitternacht herum balanciere ich vorsichtig über die improvisierte Postkarten-Brücke und stehle mir zunächst die weiße Stute aus dem Schlafzimmer des Unförmigen. Als er noch durch die Zimmertüren passte und von einem Raum in den anderen gelangen konnte, muss er das Schlafzimmerfenster geöffnet haben. Damals. Vor dieser verdammten Pandemie. Ein Glück für mich! Vorsichtig führe ich die weiße Stute über die Brücke. Oh! Wie das Pferd doch im Mondlicht herrlich schimmert! Ich schiebe die Stute durch mein Küchenfenster. Der Fensterrahmen und das Gemäuer drum herum nehmen dabei etwas Schaden. Aber, was solls?

Ich tänzle gut gelaunt über die Brücke und breche ins Badezimmer des Unförmigen ein. Zu meinem Bedauern ist der schwarze Hengst nur eine 3D-Projektion. Ich bin enttäuscht. Für zwei Pferde ist meine Wohnküche ohnehin zu klein. Dennoch kränkt mich dieser Betrug. Ich habe mich so sehr auf diesen schwarzen Hengst gefreut, den ich ja doch nicht auf der Straße reiten darf.

Ich habe mir ein trojanisches Pferd eingefangen. Die weiße Stute wirft einen Dämon. Jener langweilt sich und setzt sich auf meiner Schulter fest. Er saugt mir jegliche Energie ab und ich werde dem Dämon immer ähnlicher, während der Dämon zu meinem bösen Zwilling mutiert. Jetzt sind wir schon zu zweit, aber noch immer in dieser Wohnung eingesperrt.

Mein Dämon und ich, wir beobachten auch weiterhin den Unförmigen in der Wohnung gegenüber. Auf seinem Sofa sitzend, starrt er durch ein Fernglas zu mir herüber. Sein Sofa schwebt scheinbar schwerelos einen Meter über dem Boden. Er hat mich hereingelegt! Der Unförmige ist nicht der Harmlose, für den ich ihn hielt. Ich kann ihn durch mein Fernglas böse grinsen sehen. Ich werde die weiße Stute schlachten und essen müssen, bevor sie noch mehr Dämonen wirft. Das Fleisch der Stute wird mich hoffentlich eine Pandemie lang nähren können. DU SOLLST NICHT BEGEHREN... Diese Phrase verfolgt mich, während mein Dämon mich von innen heraus verzehrt und an meine Stelle tritt.


© hartmut holger kraske


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "DES NACHBARN SCHÖNE PFERDE"

wer Ohren hat zum hören, der höre:

https://www.bibel-server.net/luther.mp3.neues.testament.html

Und hier die "Gebrauchsanweisung":

https://bibelfit.markusvoss.net/s/markusvossde

Diesen Text als PDF downloaden



Youtube Video



Kommentare zu "DES NACHBARN SCHÖNE PFERDE"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "DES NACHBARN SCHÖNE PFERDE"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.