2. Kapitel

Senfsonße

Mein Reiseland Erde ist es wert betrachtet zu werden, aber es ist mir fremd, egal wie lange ich mich hier aufhalten muß. Zum Trost bleiben mir die Träume in der Nacht, sowie diverse Einblicke am Tage, deren Häufigkeit ich jedoch nicht steuern kann.

Doch heute bin ich wieder einmal glücklich! Denn heute morgen habe ich meine Heimat gesehen. Ein Bild längst vergangener Tage? Nein, ein Bild aus der parallelen Gegenwart in einer weit entfernten Galaxis tauchte vor meinen Augen auf: Eine Stadt!
Zuerst, muß ich gestehen, war ich irritiert, denn es handelte sich keineswegs um eine Stadt wie wir sie kennen. Von einem Hügel aus sah ich zu ihr hinüber. Natürlich hätte ich über das Verkehrswesen meines Heimatplaneten Bescheid wissen müssen, aber ich war eben durch das abrupte Auftauchen des Bildes zu sehr verwirrt. Vergeblich suchte ich in der weiten und schönen, unberührt wirkenden Landschaft nach Straßen.

Ebenso hielt ich nach einzeln stehenden Gebäuden, Gehöften, Restaurants und dergleichen Ausschau – umsonst! Vor mir glänzte nur ein riesiger, flacher Kegel metallisch seidenmatt in der Sonne. Vereinzelt ragten Türme aus ihm hervor. Besonders die Nordseite wies mehrere solche, herausragende Punkte auf. Diese Nordseite, die von der Sonne abgewandte also, wurde von einer horizontalen Wand, die vielleicht 300 Meter in der Höhe maß, begrenzt. Von der Oberkante der Wand aus stieg der Kegel zur Spitze hin leicht schräg, bis auf ungefähr geschätzte 500 Meter, an. Nach Süden fiel der schimmernde Kegel dann wieder – diesmal allerdings bis zum Boden reichend – leicht schräg ab. Die Gesamtheit des Bauwerks ( eine Stadt in einem einzigen Gebäude! ) dürfte ungefähr einen Durchmesser von 3 Kilometer gehabt haben. Mehr fühlend als denkend wußte ich, daß innerhalb der metallischen Mauern circa eine Million Superintelligenzen wohnten und Werte schufen. Und als hätten meine Fußsohlen hochfeine Sensoren gehabt, spürte ich förmlich die, von der Metropole ausgehenden, unterirdischen Versorgungsadern, durch die wichtige Materialien hin und her geschossen wurden.

Lebensmittel, meinte ich zu wissen, waren kaum dabei. Sie mußten innerhalb der Stadt selbst, in gewaltigen, unterirdischen Gewölben hergestellt werden. Besondere Arten von Pilzen, schätzte ich, gediehen dort im Überfluss. Pilze, die ausreichend Nährstoffe wie Eiweiß, Vitamine und Kohlehydrate produzierten um eine Million nahezu unsterbliche Halbgötter auf die denkbar humanste Weise am Leben zu erhalten.

Von meinem Hügel aus, auf dem ich stand, konnte ich, zwischen den überhängenden Ästen einiger seltsamer Bäume, eine weitere Spitzkuppel, am fernen, blauen Horizont, aufsteigen sehen. Einer der eigenartigen Bäume war besonders schön und exotisch für mich. Er hatte 30 Zentimeter lange, paddelförmige Blätter, die sich in einem matten Pink mit bräunlichem Unterton zeigten. Ein anderes, riesengroßes Gewächs daneben, bot mit dem sehr dunklen Blaugrün seiner unendlich vielen, kleinen, gezackten Blättchen, reichlich Schatten.

Gerne hätte ich das faszinierende Panorama noch länger genossen, aber eine große, freundliche Gestalt tauchte plötzlich, wie aus dem Nichts vor mir auf. Sie muß mich wieder auf die Erde, in mein Kontinuum zurückgebracht haben. Gott weiß wie. Aber auf einmal war ich wieder hier um meinen Weg fortzusetzen.

Im Augenblick halte ich mich im Treppenhaus eines irdischen Wolkenkratzers auf. Ich glaube ich befinde mich im 73. Stockwerk. atemberaubender Gestank dringt in meine Nasenlöcher. Kaum, daß ich die Stiegen benutzen kann. Alles ist von Unrat und Fäkalien übersät. Sogar tote Haustiere liegen zwischen den Abfällen verstreut. Auf den ersten Blick kann ich 4 Kanarienvögel, einen Papagei, zwei Katzen und die Leiche eines winzigen, haarlosen Hundes ausmachen. Alle sind bereits stark verwest. Wie es aussieht wird das Treppenhaus kaum benützt, außer als Müllhalde.

Und da höre ich ihn auch schon, den vermeintlichen Geburtshelfer des Schicksals. Fluchend steigt er herauf. Die Aufzüge kann er nicht benützen, denn gesehen werden darf er nicht. Sein Werk der Barmherzigkeit, welches er zu vollbringen gedenkt, steht immer noch unter Strafe. Was er im Einzelnen tun wird weiß er noch nicht, im Gegensatz zu mir.

Ich sehe eine phantasievolle Lösung seiner Probleme auf ihn zukommen. Seine Gedanken – eine lange Kolonne unlogischer Verknüpfungen – gehen ihm wie eine magische Aura voraus. Sein Leben findet anscheinend in einer Blase aus heftig gewitternden Halluzinationen statt, in deren Mitte ein völlig hilfloses Ich vergeblich um Haltung ringt. Ein Ich, das zwischen Übermächtigen Instinkten und rührender Eitelkeit schwankt und das sich nunmehr nur noch durch Gewalt bestätigen kann. Ich finde das gut, denn ich liebe die ungebremste Natur, die allein imstande ist dem forschenden Experimentator Kurzweil zu bieten.

„Alles Lebendige ist nur ein Gleichnis“ fällt mir dazu ein und: „Hier wird’s Ereignis“. Sätze aus Goethes Faust 1.Teil. Die Welt ist eben das beste Labor. Ich bin ein Laborant, ein Alchimist, ich beobachte und manipuliere zugleich. Ich lerne - und die zwanghafte Perversion innerhalb des Gewöhnlichen ist mein Spezialgebiet.

Die stapfenden Schritte kommen näher. Ich höre keuchenden Atem und spüre die Hitze aus den Nüstern des Helden, der sich gleich abspielenden Geschichte. Dann ziehe ich mich zurück. Mein Vorhandensein ist nicht aufspürbar. Und was feinsinnige Kreaturen davon registrieren könnten verschwindet mit Hilfe einer Konzentrationsübung meinerseits. Wer auch immer jetzt an mir vorbeigeht, wird mich nicht sehen, denn er wird sich so sehr mit seinen eigenen Gedanken, mit seinem engstirnigen Vorhaben beschäftigen, daß seine Aufmerksamkeit für ungewöhnliche, äußere Einflüsse gelähmt ist.

„Zu Dionys dem Tyrannen schlich Damon, den Dolch im Gewande“, sagte Schiller einmal, pathetisch den Geist der Revolution skizzierend. Beschrieb er damit eine Triebfeder, die in jedem Menschen vorhanden ist – mehr oder minder stark? Oder versuchte er die Gewaltbereitschaft zu beschreiben, derer sich das Menschenwesen nur allzu gerne bedient? Sind es in diesem Fall nicht eher tierische Beweggründe, die es einem Homo sapiens in den Kopf gesetzt haben einen Tyrannen zu vernichten? Nicht als Damon, vielmehr als Dämon ist er gerüstet. Nicht mit dem Dolch im Gewande, sondern mit dem Beil in der Hand. Es treibt ihn hin zu seiner früheren Frau, der mitleidlosen Geliebten, die ihn nach dem 2. Kind und dem 3. Alkoholentzug einfach verstieß, nichtachtend der Tatsache, daß er damals ihre Hilfe nötiger gebraucht hätte als jemals zuvor.

„Nein“ sage ich laut und lache in mich hinein. Dies ist kein Revolutionär, dies ist der Rächer einer fehlgeleiteten Entwicklung. Ob er mich wohl gehört hat, denke ich ängstlich, so laut habe ich gedacht. Aber mein Beobachtungsobjekt ist längst dem unwiderstehlichen Charme seiner Bestimmung erlegen. Unaufhaltsam treibt es ihn aufwärts, der Erfüllung entgegen.

Im 89. reißt er die Türe zum Hausflur auf. An seinen Füßen klebt bereits Blut. Aus Versehen ist er auf ein siechendes Meerschweinchen getreten, von dem sich vor ein paar Minuten ein zehnjähriges Kind getrennt hatte. Das Tier war wohl in ein Stichsägeblatt geraten. Nun ja, auch Kinder müssen experimentieren...

Keuchend betritt der Dämon – der übrigens Hans Müller heißt – seine einstige Wohnung. Sie steht sperrangelweit offen. Ich trete hinter ihm ein. Ein letztes Mal zögert er, als wolle er vor der Tat noch ein Orakel befragen das ihm die nötige Sicherheit für sein Unterfangen gibt. Und die Sicherheit kommt – in Form von Erinnerung, die ihn plagt, die seine Gesichtszüge verzerrt. Fiebernd läßt er sich von ihr überrollen um alle Kraft aus ihr herauszusaugen die er benötigt. In seinem Kopf dreht sich etwas: die Zeit dreht sich zurück. Klar und deutlich steht ihm die Situation vor Augen, als er Elisabeth zum ersten Mal traf. Damals zitterte er vor Angst, aber er ließ sich nichts anmerken. Die Lichter der Diskothek zauberten eigens für ihn ( und für all die andern ) eine künstliche Hölle, die den Gefühlen freien Lauf zu geben schien. Die stampfenden Rhythmen unterstrichen diesen Eindruck.

„Wie heißt du eigentlich, Kleine?“ hatte er sie angebaggert. Sie stand an der Bar und kiffte. Aber sie hatte nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht und ihn einfach stehen lassen. Volle 10 Tage hatte er danach gebraucht um sie ins Bett zu kriegen. So lange musste er sich damit abfinden, ihre, über die beiden vollen Brüste tätowierte Spinne nur teilweise betrachten zu können. Schließlich war es ihm gelungen Coks aufzutreiben. Das hatte sie dann endlich überzeugt.

Mit verklärtem Blick schaut Hans in die Vergangenheit und fast möchten die Tränen über seine Wangen kullern, als er an die Liebeskünste von Elisabeth denkt. Wie oft hatte sie ihm in der Ekstase den Rücken zerkratzt und in seine Arme gebissen vor Lust, während er stundenlang nur „oh Lieschen, oh Lieschen“ stöhnte. Den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung verlor er damals im Nu. Als der größte Rausch dann verflogen war, 6 erschöpfende Monate später, fiel ihm auf welche Fehler sie hatte. Beim größten Autoverkehr aß sie auf der Straße und schleckte sich dann, im Auspuffdampf schwerer Lastwagen, die Finger ab. Sie schmatzte wie eine Kuh und stocherte sich ungeniert, mitten im schönsten Tischgespräch zwischen den Zähnen herum. Wenn sie nachdachte, dann schob sie ihre Zungespitze zwischen die Lippen.
Wieder musste ich lachen. Seine Gedanken hatte ich mitverfolgt. Ich wußte: Lieschen Müller war immer ein Menschenkind ohne Prioritäten gewesen. Sie lebte! Das hat ihr völlig gereicht.

Doch jetzt muß ich eingreifen. Hans, der Dämon – der Dämon in Hans droht schwach zu werden. Das passt mir nicht ins Konzept und dem Lauf der Welt würde es auch nichts nützen. Mit voller Konzentration ergründe ich die heilige Vernunft ungnädiger Schicksale und übertrage sie in die Realität: Hans Müller blickt auf das Beil. Melancholisch fährt er mit den Fingerspitzen über die rasiermesserscharfe Schneide. Dabei verletzt er sich ein wenig, aber das bringt ihn in Stimmung. Die Stimme des frischen, heißen Blutes ist eindringlich und scharf, so scharf wie die selbstgeschärfte Schneide seines Instruments. Sie beseitigt alle Bedenken des potentiellen Täters. Die Wut überschwemmt ihn in heftigen Wellen. Jetzt ist er entschlossen die Bilanzen auszugleichen, seinem Leben wieder eine vorrangige Bedeutung zu geben – er will es in Ordnung bringen. Dafür ist er bereit, seine Vergangenheit mit Stumpf und Stiel auszulöschen: Lieschen und die Kinder. Eine neue Zukunft erwartet ihn. Er will sie anders gestalten als alles bisher Erlebte. Das Bisherige hat nichts getaugt, er hat nichts getaugt, seine Frau hat nichts getaugt – nichts hat was getaugt. Und angefangen hat alles mit dem Anblick einer tätowierten Spinne auf einem Dekolletee.

Hans’ Familie müßte sich gerade im Wohnzimmer aufhalten. Von dort hat er Geräusche gehört. Eigentlich hatte er damit gerechnet theatralisch sämtliche Pforten einschlagen zu müssen. Ein Damenstrumpf befand sich in seiner Hosentasche. Den würde er bei seiner Flucht sicher brauchen, wenn der Lärm des Massakers die Nachbarn alarmiert hätte. Doch heute steht ihm scheinbar die Welt offen: die Welt seiner Träume.
Wieder einmal bin ich der einzige der Bescheid weiß!

Mit erhobener Waffe stürzt der Mörder in spe hinein, aber in der guten Stube läuft nur der Fernseher leise verträumt vor sich hin. Gerade kommt Lieschens Lieblingssendung, die „Buchenstraße“. Pfui Teufel, allein deswegen hätte er sie dreimal erschlagen können.
Ist denn niemand zu Hause?
Im Badezimmer plätschert die Wanne voll. Lieschens Kleider liegen unordentlich daneben. Besenkammer und Toilette läßt Hans links liegen. Ein altgewohnter Gedanke lockt ihn ins Schlafzimmer. Dort stellt er überrascht fest, daß seine schönsten Träume bereits in Erfüllung gegangen sind. Auf dem ungemachten Bett liegt ein weiblicher Torso, flankiert von kindlichen Gliedmaßen. Das Leintuch – früher mochte es einmal schmutzig gelb gewesen sein – erstrahlt in feurigem Rot. Schmatzend sickert der Lebenssaft in die Matratze. Lieschens Arme und Beine hängen eingeklemmt aus den Schubladen der Kommode und ihr Kopf hängt, an den eigenen Haaren festgebunden, von der Schlafzimmerlampe. Die Köpfe und die Torsi der beiden Kinder Jasmin und Egbert sind nirgends zu sehen. Aus dem billigen Radiowecker mit eingebautem Kassettenteil scheppert ein Uroldie. Die Rolling Stones singen: „I can`t get no satisfaction“. Über dem Bett – scheinbar als Krönung des Ganzen gedacht, steht, mit frischem Blut geschrieben, “Performance” an der Wand.

Der Anblick raubt Hans Müller den Atem. Was für ein Schock?! Er versteht die Welt nicht mehr – darin hat sich nichts geändert. Nur mit dem Tatergebnis konfrontiert, ohne jedoch eine Tat begangen zu haben, ohne organisch gewachsene Akzeptanz einer Situation, ist er gründlich überfordert. Und ohne sich in den erhofften Blutrausch hineingesteigert zu haben ist er unfähig, den schnell aufsteigenden Ekel zu überwinden. Deshalb erbricht er sich folgerichtig mitten in die ganze abscheuliche Szene hinein und merkt gar nicht was hinter ihm vorgeht.

Die Türen der Besenkammer und der Toilette waren aufgesprungen. Zwei seltsame Gestalten, eine lange hagere und eine kleine rundliche treten rasch herbei. Die eine ist mit einem schweren Polizeiknüppel ( er trägt die original Autogramme berühmter Fernsehpolizisten ), die andere mit einer Machete bewaffnet, stürzen sich auf den Speienden. Der Lange mit dem Knüppel holt aus und drischt zu. Zum Glück trifft er nicht richtig, denn gerade als sein Gerät niedersaust, wird Hans von erneutem Würgen nach vorne gezogen. So landet der Treffer nicht auf dem Kopf, sondern lediglich auf der Schulter. Neuerlich über alle Maßen erstaunt und erschrocken, kann sich der Getroffene noch umdrehen. Mit der linken Hand, an dem Arm mit der unverletzten Schulter, greift er nach dem Beil, das immer noch jungfräulich unschuldig an seiner Seite liegt. Damit versucht er sich zu schützen, aber wieder einmal ist es zu spät für ihn. Der kleine Dicke hat ihm die Machete bereits bis zum Heft in die Brust gestoßen.

Hans kann das jedoch nicht aufhalten. Es gehe jetzt noch um sein Leben, denkt er, völlig verfehlt und stürzt schreiend davon. Zufällig steigt gerade ein nichtsahnender Zeitgenosse im 89. Stockwerk aus dem Fahrstuhl. Er wird zur Seite gestoßen. Hastig drückt Hans auf „E“. Sinnigerweise ruft er mehrmals im Aufzug um Hilfe, aber dort kann ihn keiner hören. Außer mir natürlich. Ich bin mitgefahren und fast habe ich den Eindruck der verhinderte Massenmörder und Schicksalsheld könne mich jetzt, im Angesicht seines Todes erkennen.

Vor dem Gebäude hat sich inzwischen ein Tumult entwickelt. Streifenwagen sind aufgefahren. Die schrecklichen Schreie von Lieschen und den Kindern hatten tatsächlich die Nachbarn veranlasst die Polizei anzurufen. Mit der Waffe im Anschlag ist das Einsatzkommando in Stellung gegangen. Als sich vor Hans die Aufzugtüre öffnet sieht er wie die Eingangshalle und die Umgebung draußen im polizeilichen Blaulicht flackern. Das Beil, immer noch mit der linken Faust umkrampft, stürzt er auf die Straße. „Ihr kommt zu spät“, schreit er. Und wieder, wie so oft im Verlauf seines, so vor sich hin gelebten Daseins, wird er gründlich missverstanden. Das Mündungsfeuer eines Polizeischützenpanzerwagens blitzt auf und der Mann mit der klaffenden Wunde in der Brust und dem Kotter am Hosenbein bricht augenblicklich in der Feuergarbe explodierender Granaten tot zusammen. Es hat ihn buchstäblich zerrissen! Später wird nicht mehr feststellbar sein, daß Hans Müller schon vor dem Schuss faktisch tot war, denn ein kaum noch vorhandener Brustkorb ist ungeeignet für diffizile Untersuchungen.

Unauffällig mische ich mich unter die Leute. Nun kann ich mich indirekt an Gesprächen beteiligen und andere Passanten belauschen. Dabei erfahre ich Wichtiges: Jedermann ist gekommen um sich am Unglück Fremder zu erbauen. Ein hochdramatischer Film läuft ab – geschmackloses Unterhaltungsprogramm. Schade, meint so mancher in der Schar der Gaffer, daß der Tatort von hier aus nicht zu sehen ist. Dort wäre genug Stoff vorhanden um primitive Phantasievorstellungen für Stunden zu befriedigen. Solange bis ein besserer Film im Fernsehen läuft. Und noch etwas erfahre ich: Es ist gar nicht das schlechte Programm im Fernsehen, das harmlose Bürger zu Mördern macht. Was es ist, verschweige ich. Das müssen sie selbst herausfinden. Und da kommen Sie ja auch schon von der anderen Straßenseite herüber, Hauptkommissar Kaspar Gleich, geradezu flankiert von seinem Gehilfen, Inspektor Greifzu, genannt „Zuffi“. Ich höre noch wie Sie sagen „haben wir jetzt endlich eins von diesen Schweinen erwischt?“ dann löse ich mich, lauthals lachend, in Luft auf. Wenn ich mich nicht täusche haben sie mich noch gehört.

Ps.: Vorher gelang es mir noch, ihnen dieses Schreiben unbemerkt zuzustecken.

Wie zu erwarten schuf das neu aufgetauchte Bekennerschreiben im Dezernat eine Atmosphäre des Misstrauens. Daß es diesmal im direkten Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz stand, machte die Sache nur noch komplizierter.

Der Psychologische Überwachungs-Verein hatte im Auftrag des WGD, des Weltgeheimdienstes, eine neue Kraft geschickt. Ljubov Turischtschewa ( Ljubov = russischer Frauenname, der „Frühling“ bedeutet ), der neue Überwachungsoffizier, machte kein Hel daraus von nun an Sams absoluter Vorgesetzter zu sein. Ihre schillernde Karriere, sowie ihr grundsätzlich beleidigt wirkender Gesichtsausdruck taten ein Übriges um Sam die gute Laune gründlich zu verderben. Wie zu erfahren, war Turischtschewa vom PÜV beauftragt worden, sämtliche Gründe dafür aufzuspüren, warum es ausgerechnet in dem sonst so vorbildlich opportunistischen Bavarien einen derart unverschämten Anarchisten gab, der es liebte mit anonymen Briefen an einen Hauptkommissar aufzufallen. Gemäß der Order, die der Überwachungsoffizier dem Innenministerium vorgelegt hatte, sollte er schnellstens alle Ursachen beseitigen, die zu einer Panik innerhalb der Bevölkerung beitragen konnten. Der Welt-Seelenfrieden stand auf dem Spiel. Aber Sam Gleich befürchtete ein falsches Spiel.

Mit Recht vermutete er, daß Ljubow ganz allein seinetwegen in die Landeshauptstadt Münchhausen gekommen war. Und zwar, weil er 1). für den PÜV inzwischen ein unlösbares Rätsel darstellte, das im Kriminaldienst nichts zu suchen hatte - aus einem nicht verstandenen Menschen konnte schließlich schnell ein gefährlicher Agitator werden! Und 2). um ihm jene persönlichen Geheimnisse zu entlocken, die sogar das blaue Männchen im staatlichen Kontrollamt nicht lüften konnte - und über die Sam im Wachzustand selbst nicht Bescheid wußte.

Ljubov Turischtschewa war vor 20 Jahren als Bodygard für einen großen Wirtschaftsboss in San Francisco tätig gewesen und später in Tokio zur Industriespionin ausgebildet worden. Vor 2 Jahren hatte sie in ihrer Geburtsstadt Wladiwostok die Niederschlagung eines Aufstandes halbwüchsiger Obdachloser als amtierende Polizeipräsidentin geleitet. Ihr zartes Alter von 46 sah ihr keiner an, ebenso wenig wie ihre augenblickliche Führungsrolle beim PÜV. Sie wirkte straff, sportlich und in geeignetem Licht auch irgendwie attraktiv. Jetzt war sie, aufgrund ihres markanten Erfahrungspotentials, hinsichtlich besonderer Lebensumstände, mit Aufgaben betraut, die eine Menge Fingerspitzengefühl erforderten. Hauptkommissar Gleich galt seit kurzem als ein solcher Fall. Ljubov war angewiesen bis zu Äußersten zu gehen. Das hieß, wenn nötig, entweder „Liquidierung“, oder auch „Ausübung des Geschlechtsverkehrs“, sofern dies zur Disziplinierung der überwachten Person erforderlich werden sollte.

Ljubov drückte die Taste, die eine Videoanlage einschaltete. Auf dem kleinen Bildschirm erschienen die Reste der Leiche Hans Müllers. Der weibliche Offizier betrachtete sie ungerührt. Dabei veränderte sich ihr Gesicht gespenstisch. Insiderkreise hatten ihr den wenig schmeichelhaften Beinamen „Eisenfresserin“ gegeben. Und wirklich: jetzt war sie in keiner Weise mehr attraktiv, jetzt ähnelte sie eher einer Bulldogge. Sam, der Hauptkommissar, betrachtete sie und erbleichte. Das konnte er nicht abstreiten: die bedingungslose Pflichterfüllung stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben!
Ob sie auch diesmal zuwege brachte was sich der PÜV und der WGD von ihr versprachen würde sich zeigen, die Wahl der Mittel stand noch aus.

Um sich selbst zu motivieren, fasste sich Ljubov unter den roten Pullover, um die stählerne Härte ihrer Bauchmuskulatur zu ertasten. Dann packte sie Gleich reflexartig am Kragen. Im selben Moment erstarb das harte Lächeln wieder, das sie vorher, beim Ertasten ihrer Bauchmuskeln gezeigt hatte.
„Kommen sie mit, wir gehen einkaufen!“ brummte sie ihn gebieterisch an.

Auf dem Weg zum Supermarkt überprüfte Sam seinen Revolver. Insgeheim freute er sich darüber, daß ihm nicht ausgerechnet jetzt, in Begleitung dieser auffallend dominanten Frau alte Kundschaft begegnete. Bevor er den Eingangsbereich des Einkaufszentrums betrat verstaute er den Remington wieder im Schulterholster.

Es war kalt! Der Tag schien nicht wärmer werden zu wollen. Sam fröstelte von innen heraus, wie von einer Vorahnung geschüttelt. Beunruhigte ihn der Anblick des grauhaarigen Mannes neben dem Zeitschriftenstand, der da misstrauisch über einen antiken Leierkasten lugte? Ljubov trat an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann nickte, zog den Leierkasten ein Stück zurück und öffnete eine ramponierte Eisentüre hinter sich. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um einen Lieferanteneingang. Der Spalt reichte gerade zum Durchschlüpfen. Sam half ihm den Leierkasten wieder gegen die Tür zu schieben. Auf seinen großen, mit Hartgummi bereiften Rädern ließ sich das Ding leicht bewegen. Er trat auf die Bremsklinken und der Kasten rührte sich nicht mehr vom Fleck.

„Mein Kollege und ich ermitteln eigentlich gegen die Anarchie“, erklärte Ljubov dem Alten auf dem Weg zu einem geheimnisvollen Ziel. „Ja, ich weiß, sie haben nicht viel Zeit“, entgegnete der Grauhaarige. Er mochte so um die 70 sein. Sie erreichten einen schmutzigen Abstellraum. Beim Eintreten verharrte Hauptkommissar Gleich verblüfft.
„Das ist der Reporter“, meinte der Alte und deutete auf einen jungen Mann hinter einem vermoderten Schreibtisch. Obwohl er gefesselt war, sah er ganz und gar nicht wie ein Gefangener aus, eher wie ein Komplize. Er lächelte sogar zur Begrüßung. Sein Hut mit der Aufschrift „Presse“ hing an einem Ständer neben ihm.

„Haben wir unsere Siebensachen beisammen?“ fragte der Überwachungsoffizier und der Leierkastenmann antwortete theatralisch: „Seine Kameras hat er mitgebracht“.

Ljubov nahm das Stativ mit dem aufgepflanzten Fotoapparat und baute es vor sich auf. Dann zog sie an einer Schnur und wie von Geisterhand verschwand der Schreibtisch nach links. Hinter dem Gefesselten schob sich eine vergammelte Sperrholzwand zur Seite. Dahinter tauchte eine Konstruktion auf, die wie ein Andreaskreuz aussah. Sie war mit Hand- und Fußschellen garniert. Inzwischen hatte der Alte Ljubov hinter der Kamera abgelöst und drückte zum ersten Mal auf den Auslöser. Sam blickte sich hastig um. Das konnte eine Falle sein. Er bemerkte, daß außer dem Fotoapparat noch zwei weitere technische Geräte im Einsatz waren: Eine gewöhnliche Videokamera und eine für 3-D-Filmaufnahmen. Wahrscheinlich liefen beide bereits.

„Willst du jetzt reden Kleiner, oder müssen wir andere Saiten aufziehen?“ zischte die Turischtschewa bissig. ( Gespieltes? ) Entsetzen grub sich in die Züge des gefesselten Reporters. Seine Augen weiteten sich, er riss den Mund auf und wollte schreien. Aber Ljubov stopfte ihm einen Gummiball in einem Lederband zwischen die Zähne und knotete das Band an seinem Hinterkopf zusammen. Dann hob sie den jungen Mann hoch und schüttelte ihn kräftig durch. Der quietschte wie ein quengelndes Kind. Hinter Hauptkommissar Gleich machte es „klick“.

„Runter“ brüllte die Frau und im selben Sekundenbruchteil tauchte er ab. Er hatte mitten in der Schusslinie des Fotoapparates gestanden! Mit bulliger Kraft zerriss der weibliche Überwachungsoffizier nun die Kleidung des Opfers, löste seine Fesseln kurz und hatte es wenig später, mit gespreizten Armen und Beinen am Andreaskreuz fixiert. Danach warf Ljubov selbst ihre Oberbekleidung ab. Darunter kam ein winziger Büstenhalter in Schwarz zum Vorschein, der ihre dürftigen Brustwarzen frei ließ. Das Ablegen der Hose offenbarte schwarze Strapse, sowie passende, schwarze Netzstrümpfe dazu. Ihr muskulöser Körper glänzte animalisch im Licht der beiden, jetzt vom Alten eingeschalteten, 1000-Watt Scheinwerfer.

Von irgendwoher ertönte eine eigenartige Musik. Sie klang als würden Blasinstrumente zerplatzen und durch die Luft schwirren. Gitarrensaiten zerrissen scheinbar und erzeugten flirrende Effekte. Schlagzeugfelle knallten durch und Metallteile undefinierbarer Herkunft und Struktur zerbarsten knirschend. Holzregale zersplitterten imaginär in tausend Fetzen. Glasscheiben klirrten – eine Maschinengewehrgarbe knatterte fern im Hintergrund.

Ljubov hatte plötzlich eine Reitpeitsche in der rechten Hand. In der linken hielt sie die voll aufgepumpte Männlichkeit des Reporters und presste sie energisch solange zusammen bis sie sich langsam bläulich verfärbte. „Klick!“ Mit der Rechten stieß sie ihm den Peitschgriff in die Hoden. „Mhamahh!“, stöhnte der Gepeinigte durch den Gummiball in seinem Mund. „Klickklick“.
Dann begann Ljubov ihre linke Faust auf und ab zu bewegen, während sie grob in seine Brust biss. „Mmmmhmm!“ „Klickklickklick“. Nach einer ganzen Weile hörte sie unvermittelt damit auf. Das Opfer wand sich am Fesselgestell. Augenscheinlich hatte es sich bei diesem verrückten Spiel köstlich amüsiert und wartete nun auf das Finale. Auch Ljubov schloss das aus den erwartungsvollen Blicken des Reporters. „Das hättest du wohl gerne?“ schrie sie. „Hast du dir das denn verdient? – Vorher musst du schon gestehen!“

Dem Hauptkommissar kamen ernste Bedenken. Dagegen protestieren konnte er immerhin nicht: Ein vom PÜV abgesandter Überwachungsoffizier galt grundsätzlich als Vorgesetzter, sogar Bürgermeistern und Polizeipräsidenten gegenüber. Logischerweise wußte der PÜV, wer Ljubov Turischschtewa war. Für ihn gab es keine Geheimnisse und ganz gewiss nicht was seine höheren Beamten betraf. Aber diese Art der Verhörmethoden sahen für Kaspar Gleich eher nach Perversion aus, als nach sachgemäßer Pflichterfüllung.

Was war das hier für ein Schmierentheater? Ein echtes Verhör konnte es wohl kaum sein, sonst würde das Opfer keine Befriedigung dabei empfinden. Andererseits waren die Kameras doch sicher nur deshalb installiert worden um ein Geständnis aufzuzeichnen. Sam wusste, daß der WGB neuerdings wieder die Folter eingeführt hatte – streng inoffiziell selbstverständlich. Diese Vorgehensweise kam ihm aber reichlich komisch vor. Nach sorgfältiger Auslese aller denkbarer Möglichkeiten kam Hauptkommissar Gleich mit sich überein, daß sich der Überwachungsoffizier zur Stunde nicht im Dienst befand und sein augenblickliches Verhalten eine Freizeitbeschäftigung darstellte. Ljubovs Lebenswandel musste von großer geschlechtlicher Aktivität geprägt sein, die ihren Ausdruck in einer Art künstlich inszenierter Pseudo-Inquisition fand. Die Rolle als Untersuchungsleiterin kam der Rolle Ljubovs in ihrem realen Leben ziemlich nahe. Nur, daß sie sich im richtigen Leben nicht immer gleich sexuell befriedigen konnte.

Kaspars bewundernswerter Scharfsinn hatte ihn wiederholt auf die richtige Fährte geführt – und doch irrte er sich in einigen, wichtigen Details.

„Klick, klick, klick, klick, klick“. Der Leierkastenmann betätigte weiter fleißig den Auslöser des Fotoapparats. Ljubov schlug derweil munter mit der Peitsche auf den Gefesselten ein. Als, nach einiger Zeit, der ganze Körper, von der Brust bis zu den Waden – mit Ausnahme der Genitalien – mit Striemen bedeckt war, kramte sie eine Rasierklinge aus der Schreibtischschublade. „Wgniiin!, schrie der Gefesselte und Geknebelte, aber seine Peinigerin ließ sich nicht beeindrucken. Vorsichtig wie ein Op-Arzt führte Ljubov die Klinge zuerst quer über den Bauch und fing dann an die Schenkel zu ritzen. Kleine Blutstropfen rannen hinunter. Unter kräftigem Zupacken walkte sie nun wieder, das sich diesmal dunkelrot verfärbende Glied des Mannes.

Nebenbei leckte sie die Blutstropfen auf. Der Leierkastenmann wischte sich mit einem weißen Tuch über die Stirn. Er leistete durch die wechselnden Einstellungen des Objektivs im heißen Scheinwerferlicht Schwerarbeit.

Sams Gedanken jagten einander. Wenn der Film an die falschen Stellen geriete und es sich, allen gegenteiligen Vermutungen zum Trotz, doch um eine Amtshandlung drehte, dann konnte ihm, im Falle einer Trendwende in Regierungskreisen, nachgewiesen werden, daß er Zeuge gewesen war. Für ihn konnte das eine unbeschreibliche Katastrophe auslösen, denn dann hatte ihn die Obrigkeit völlig in der Hand. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben als zu allem, was von ihm verlangt werden würde ja und Amen zu sagen.

Unsanft schreckte er aus seinen sensiblen Überlegungen hoch. Ljubovs Handy hatte - furchtbar schrill - geklingelt.
Es war ein sehr kurzes Gespräch. „Dranbleiben! Ordnete sie an. „Unsere Spezialisten haben inzwischen herausgefunden, daß es sich um eine geheime Weltrevolution handelt“.
Zu dem gefesselten Journalisten sagte sie: „Und was hast du mir zu bieten? Meine Zeit wird langsam knapp!“ Der Gefesselte nickte hastig, worauf ihm der Leierkastemann den Knebel abnahm.

„Ich gestehe“, keuchte der Geschundene erregt, „machen sie endlich Schluss“.
„Ich höre!“ Mit diesen Worten fing die starke Frau an ihm Erleichterung zu verschaffen. „Meine Firma macht neuerdings Rekordgewinne mit ganz normaler Pornographie, Gruppensex, harmlose Bondage-Spiele und so weiter“. Zur Belohnung erhöhte Ljubov etwas das Tempo, hielt sich jedoch gleich wieder zurück.

„Ganz einfache Ganzkörpermassagen, unter besonderer Einbeziehung der erogenen Zonen, sind sogar der Renner. Ästhetische Erotik, Herrin. Ahhh!“
Die Herrin hatte ihn mächtig in den Hintern gezwickt.
„Pfui Teufel!“ Ljubov lachte durchdringend. Ihr Kopf ruckte herum. Mit großen Augen, den Mund weit offen, starrte sie den Alten an. „Haben sie das mitgekriegt?“

„Ja, verdammt“, lächelte dieser. „Ich hab jedes Wort mitgekriegt und trotzdem checke ich kein einziges“.
„Ich sag dir, das sind alles Spinner, die uns hintenrum fertigmachen wollen. Wäre ja nicht das erste Mal, daß sich irgendwelche Scheißgangster als anständige Leute tarnen und mit ihren Moneten die Mode beeinflussen wollen“.

„Mann“, staunte der Leierkastenmann andächtig. „Sie haben recht, „da will wer den Markt manipulieren“. Scheinbar wutentbrannt griff er unter seine Weste. Was hatte er vor, wollte er im nächsten Augenblick wild um sich schießen?
Das absurde Gespräch in Verbindung mit der überaus kuriosen Schau hatte Kaspar Sam total durcheinander gebracht. Er verstand nur noch Bahnhof, aber seine Hand lag vorsichtshalber auf dem Revolvergriff. Doch was der Alte hervorzauberte war gar keine Kanone. Trotzdem jagte der Anblick Hauptkommissar Gleich einen eisigen Schauer über den Rücken. Zuerst sah das Ding aus wie ein Baseballschläger, dem der Griff fehlte. Doch der Leierkastenmann drehte das dicke Ende nach oben und der dünne, lange Griff rutschte teleskopartig heraus und rastete mit einem metallischen Geräusch ein. Ljubov erhöhte noch einmal die „Schlagzahl“. Der Gefesselte stöhnte hörbar laut.

Der Baseballschläger war goldfarben lackiert, aber er war sicher nicht aus Gold, sondern aus Stahl. Ein solches Modell hatten selbst die Profis der Münchhausen-Bulls wahrscheinlich noch nie in der Hand gehabt.
„Zeigen sie’s ihm“, grunzte Ljubov angestrengt. „Mit dem Penner werde ich alleine nicht mehr fertig“.
Anstatt einer Antwort ließ der Leierkastenmann den Schläger mit äußerster Vehemenz nach links sausen. Sam stockte der Atem. Es krachte und splitterte, wie bei einer Explosion.
„Klasse, er kommt“.
„Klicklicklicklicklick“ machte der Fotoapparat, auf Selbstauslösefolge eingestellt und das Folterteam betrachtete sein Werk. Der Alte hatte ein Loch in die Bretterwand, die den Abstellraum von der Lagerhalle trennte, geschlagen.

Kaspar Gleich entspannte seine Muskeln. Nervlich zur Gänze erschöpft löste er seine rechte Hand vom Revolver. Zitternd wickelte er, nach langer Abstinenz, ein Stück Eisschokolade aus und schob es sich in den Mund. Im Notfall steht ein Mann zu seiner Sucht, denn wo es keinen realen Ausweg mehr gibt, da hilft bisweilen nur noch eine kleine Erfrischung. Dies war sein Motto, das bisher allerdings nur in besonders brenzligen Situationen Anwendung fand und er dankte seinem Schöpfer dafür, lediglich ab und an naschen zu müssen. Hie und da trank er auch Alkohol, aber er rauchte und fixte nicht.

Ljubov, anscheinend zum Scherzen aufgelegt, wandte ihm ihr Bulldoggengesicht zu. Sie schien Gedanken lesen zu können.
„Wärst wohl gerne ein Fixer geworden, was, Kaspar?“ Jetzt duzte sie ihn auch noch. Höchstwahrscheinlich glaubte sie ihn mit der vorigen Aktion zu ihrem Vertrauten gemacht zu haben. Sam schluckte, schüttelte aber stumm den Kopf.
Ljubov kicherte. „Du fragst dich was dir die Ehre verschafft hat, bei meinem kleinen Nebenjob dabei gewesen sein zu dürfen?“
Sam schluckte erneut. „Ja“. Seine Stimme klang welk und brüchig. „Bitte verraten sie mir warum sie hier sind und welche Befehle sie haben, Ma’am“.
„Donnerwetter“, rief der Überwachungsoffizier mit gespieltem Erstaunen. Die Turischtschewa stellte sich kerzengerade auf. „Das klingt ja richtig militärisch. Dabei hat so ein Schlappschwanz wie du doch bestimmt nicht gedient. Oder hast du?“

„Nein, Ma’am“.
„Dachte ich mir!“ Sie nickte und nahm noch einmal die Reitpeitsche um damit zu spielen. Sie hielt sich den ledernen Griff unters Kinn und stülpte die schmalen Lippen vor, als könne sie auf diese Weise besser nachdenken. Gedehnt sagte sie: „Weißt du Kaspar, wir machen uns ein bisschen Sorgen über das was mit dir im `Schwarzen Loch` passiert ist“.
„Was soll da schon groß passiert sein?“ heuchelte Sam.
„Du hast was von einem gewissen ´UHU´ gefaselt, kannst du dich nicht mehr daran erinnern?“

Sam konnte nicht verhindern, daß er etwas errötete.
Zuerst konnten wir damit nichts anfangen, aber dann haben wir unseren Zentralcomputer aus Washington zugeschaltet. Er verglich die Informationen weltweit mit den Aussagen einiger anderer, auffällig gewordener schizophrener Geisteskranker und heraus kam eine eigenartige Erklärung. Der Begriff soll ganz genau ´Unidentified-Human-Undercoverpower´ bedeuten. Der Himmel weiß was das sein soll. Für mich bedeutet es jedenfalls nichts – außer eine noch nicht bekannte Form kollektiven Wahnsinns vielleicht. Komisch ist nur, daß gar nicht viele davon betroffen sind. Du selbst aber bist anscheinend im Endstadium dieser Krankheit, nachdem du dich selbst als ´Botschafter´ bezeichnet hast. Das hast du doch, oder?“
„Ja, hab ich“. Sam biss sich auf die Unterlippe und versuchte seinen Herzschlag und das sporadisch auftretende Zittern zu bändigen, indem er tief und regelmäßig atmete. Ljubov strahlte. Sie war hoch erfreut. „Na, dann bist du ja jetzt einigermaßen informiert und wir brauchen nicht mehr um den heißen Brei herumzureden. Die Sache ist, wie du siehst, furchtbar einfach: Wir möchten nicht, daß du mit dem Schreiber der Bekennerbriefe in Kontakt trittst. Für uns wäre das ein nicht wieder gutzumachender Fehler. Ein solcher Zwischenfall könnte – eine geradezu ekelhafte Vorstellung – unser weltweites Behelfs-Rechtssystem gefährden. Weiß du, was das für dich bedeutet?“

„Äh – ich – ich...“. Sam spürte, daß seine Luft knapp wurde. Er konnte nicht mehr richtig denken.
„Natürlich weißt du es“: Turischtschewa gab sich geduldig, wie eine gütige Mutter. „Für dich gilt das Gleiche wie für alle anderen Menschen: Wir sind eine einzige Gemeinschaft von größeren und kleineren Geschäftspartnern, in einem, rein wirtschaftlich orientierten Sozialgefüge. Gefühlsduseligen Idealismus, egal woher, können wir uns nicht leisten. Vor allem aber möchten wir nicht, daß sich ein paar Verrückte zusammentun um sich blödsinnige Geschichten auszudenken, die womöglich geeignet sind, die vielen, anfälligen Mitläufernaturen unter uns ebenfalls verrückt zu machen“. Ljubov hielt Sam den Peitschengriff unters Kinn, drückte es hoch und zwang ihn ihr in die hellblauen Augen zu sehen. Was das Volk braucht hat sich seit Jahrtausenden nicht geändert. Die korrekte Bezeichnung dafür lautet ´Brot und Spiele´, panem et circensis, verstehst du? Das lenkt von einer die Gemeinschaft zerstörenden, positiven Selbstverwirklichung einzelner ab. Festzustellen was positiv ist, kann nur Aufgabe einer kompetenten Führungsschicht sein. Eine Unterwanderung der bestehenden Gesellschaft mit neuen individuellen Wahrheiten können wir nicht dulden, weil das nicht geeignet ist unsere geschäftlichen Probleme kurzfristig zu beseitigen. Und davon haben wir, weiß Gott genug!“

Inzwischen hatte sich der Journalist gewaschen und neu bekleidet. Niemand sah ihm seinen Ausflug in ein Ausweichgebiet der Bürgerlichen Moral mehr an. „Ich möchte mich dann verabschieden, liebe, gnädige Frau, hochverehrte Herrin, und ihnen noch einmal im Namen der Redaktion von SM-Bild ausdrücklich danken. Niemand macht seine Sache besser als sie. Wie gut sie waren, dürfen sie in ein paar Wochen, wenn das Material von unseren Spezialisten nachbearbeitet wurde, in den Einkaufshops für Erwachsene bewundern. Der Film kommt nächstes Jahr im Pay-TV. Ich glaube jetzt schon sagen zu dürfen, daß er ein Renner wird. Ach ja und was die Bezahlung betrifft – ihre Kontonummer haben wir ja“.

Ljubov Turischtschewa lachte herzerfrischend und steckte mit ihrer guten Laune die anderen an.
Auch Hauptkommissar Gleich lachte erleichtert mit. Jeder schien nun ausreichend befriedigt worden zu sein. Die allgemeine Aufmerksamkeit war wieder von ihm abgewichen. Jetzt fühlte er sich besser. Außerdem war er sich ohnehin keiner Schuld bewußt. Wie sollte er sich mit einem Mann / einer Frau verschwören, deren genaue Absichten er nicht einmal kannte?

Der Überwachungsoffizier spürte Kaspars Erleichterung und nützte die Gelegenheit für ein letztes, warnendes Wort. Freundschaftlich legte sie ihren Arm um Sams Schultern. „Wir haben nichts dagegen, wenn du am Sonntag ins Fußballstadion gehst und mit den unschuldigen Proleten dort über das Wetter und die Liga quatschst. Wir haben auch nichts dagegen wenn du heimlich deine Kinder misshandelst, ebenso wie wir nichts gegen einen kleinen, amüsanten Nebenerwerb deinerseits haben. Du hast gesehen was alles möglich ist. Die Leute von der modernen, harten Vergnügungsindustrie sind stets auf der Suche nach fähigen freien Mitarbeitern. Schließlich muß unsere geheiligte Doppelmoral aufrechterhalten bleiben. Vor allem in diesen schwierigen Zeiten, wo angesichts der unzähligen Arbeitslosen das Geld knapp geworden ist und vielleicht ein gefährlicher Umbruch droht“.

Sam konnte nicht verhindern, daß er erneut zu zittern anfing und diesmal war es ihm auch äußerlich anzumerken. Noch niemals war er ein braver Schüler gewesen. Doch im Augenblick quälte ihn sein schlechtes Gewissen wie in der Schulzeit, wenn er mal wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Wie oft hatte er sich geschworen, sich dem Strom der Allgemeinheit anpassen zu wollen – und wie oft hatte er kläglich darin versagt. Nun stand offenbar mehr auf dem Spiel als nur gute Zensuren. Er machte sich bedrückt auf den Heimweg. Ljubov begleitete ihn ein Stück.

Am Ende der Straße tauchte eine seltsame Gestalt unter den anderen Passanten auf. Sie trug eine schwarze Brille, eine gelbe Armbinde mit drei Punkten und stocherte mit einem weißen Stock am Boden herum. Auch der dunkelbraune, tief in die Stirn gezogene Hut konnte nicht verhindern, daß man sofort erkannte wer es war: Inspektor Greifzu, genannt Zuffi. „Was, zum Teufel, macht dieser Trottel hier“, stöhnte der Hauptkommissar, verstand aber sofort die Beweggründe seines treuen Untergebenen. Zuffi hatte sich Sorgen gemacht und versuchte nun in Eigeninitiative herauszufinden, was der PÜV alles unternehmen würde um Kaspar Gleich in Verlegenheiten zu bringen. Ljubov Turischschtewa lachte schallend. Den einen Arm hatte sie immer noch um Sams Schulter gelegt. Mit dem anderen stoppte sie Zuffi, der inzwischen herangekommen war.
„Du hast wohl heute frei, Kleiner?“ zischte sie. „Oder was könnte dich sonst veranlasst haben uns nachzuspionieren?“ Ein vorwurfsvoller Blick traf den Hauptkommissar, der ja Zuffis Übereifer auch veranlasst haben konnte. Sam geriet in ärgste Bedrängnis und leider – gerade in dieser äußerst prekären Situation – hörte er auch noch Stimmen. Genauer gesagt eine Stimme. Melodisch und freundlich sagte sie: „Achte nicht auf die Äußerungen deiner Spezies. Sie ist unvollkommen und fehlgeleitet, vielleicht war sie ja auch schon – insgesamt gesehen – als Fehlschlag geplant. Denke an deine Reise und deine wirklichen Aufgaben. Es ist nicht wichtig an welchen Ort du gerätst, sondern in welche Verfassung. Besinne dich auf dich selbst, denn alles was du hier zu hören bekommst ist eigentlich nur eine Menge Quatsch mit
Senfsoße.


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Reisebericht Erde 2 / fsk 18"

Re: Reisebericht Erde 2 / fsk 18

Autor: noé   Datum: 09.02.2014 11:57 Uhr

Kommentar: Nochmal WOW! Allerdings wird hier nochmal deutlicher, warum Du die fsk 18 in den Titel genommen hast. Dieser Text ist gewiss nicht für Lieschen Müller gedacht, die sowieso keine Freude mehr daran hätte, sondern eher für einen russischen Frühling. (harharr, um Dich zu zitieren).
Und Deine Stadt hat sicher nicht von ungefähr Anmutungen einer Temitenpopulation, obwohl die - glaube ich - keine Pilze kultivieren; sind das nicht eher die Blattschneiderameisen?
Insgesamt gefällt mir dieses Produkt Deiner anscheinend uferlosen Phantasie ausnehmend gut! Weiter so, mon cher frère,
ta sœur

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