Kosmos Bahnhof
Hier sitze ich jetzt schon seit drei Stunden und weiß nicht, wohin. Es kommt mir vor, als sei dieser Bahnsteig zugiger als andere Bahnsteige. Zugig, klar, schließlich fährt hier ein Zug nach dem anderen ein und auch wieder aus. Die Reisenden bleiben nie lange hier stehen. Sie kommen die Treppe herauf und nach wenigen Minuten steigen sie in ihre Züge ein. Manche sind zu zweit, doch das ist selten. Die meisten sind allein und entweder schon alt oder noch sehr jung. Einige machen mir Angst. Die Frau mit den schwarzen Klamotten, schwarzen Haaren und schwarzen Fingernägeln wirkt bedrohlich auf mich. Auch drei junge Männer, Teenager eher noch mit abgeklärten, gefühllosen Gesichtern, Stöpseln in den Ohren und Hosen, die viel zu groß scheinen, sind mir nicht geheuer. Ich bin keine Reisende, ich bin eine Suchende. Hier komme ich her, mein Vater war Eisenbahner im Ruhrpott und hier läuft mein Leben an einen einzigen Knotenpunkt zusammen. Jeder Bahnhof gibt mir das Gefühl von Kleinheit. Während ich hier so sitze, bin ich wieder vier Jahre alt, fahre die Oma besuchen oder ich bin zehn und fahre mit meiner Schulklasse ins Kindertheater in Essen. Ich kann mich fühlen wie damals als Teenager, der zum ersten Mal nach Dortmund zu einer Ausstellung fährt. Ich habe die Bahnhöfe nie besonders gemocht, sie stecken so voller Erinnerungen, wenn man die Orte auf den Anzeigetafeln liest. Die Stimme aus dem Lautsprecher startet wieder mit ihrem monotonen Spruch: „Achtung, auf Gleis drei fährt ein der Zug……“ Ich blicke dem Zug entgegen. Er fährt langsam ein und Menschen strömen aus den überfüllten Abteilen. Andere steigen ein, jeder denkt scheinbar nur daran, wie er möglich schnell in dieses Blechreptil hineinkommen kann. Jeder scheint zu befürchten, dass er keinen Platz mehr bekommt. Ich möchte ihnen sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, es kommen immer wieder neue Züge, irgendwohin kann man immer fahren. Gedanken gehen mir durch den Kopf, wie auf eingefahrenen Gleisen in einem Bahnhof. Ein Songtext von Reinhard Mey. Er besingt, wie die Züge sie deutsche Geschichte beeinflusst haben und umgekehrt. Kohlenzüge, Waffentransporte, Transporte mit jüdischen Gefangenen und schließlich auch immer wieder ein Faktor in der Wirtschaftwunderzeit. Ich hatte auch eine Zeit. Meine Gedanken rasen von der Scheidung meiner Eltern zu meiner ersten Hochzeit. Dann enden sie auf einem toten Gleis. Ein anderer Gedanke bringt mich von Berlin hierher zurück. Ich habe einen guten Freund sterben sehen, ein Hirntumor, weit verzeigt in seinem Kopf.
Ich war in Zügen oft auf der Flucht. Ich habe es nicht gemocht, dieses laute Treiben auf den Bahnhöfen. Und wenn ich den Bahnhof verließ, an der Hand meiner Mutter, stand ich mitten in einer Ruhrpottstadt. Ich war zu klein für diese Stadt. Überall riesige Häuser, Schornsteine, Qualm, , Schmutz, Staub. Ich fühlte mich nicht wohl in meinem Kinderzimmer, in dem ständig die Fenster geputzt werden mussten wegen der nahe gelegenen Zeche. Alles war grob in meiner Kindheit. Die Geräusche, die Sprache, das Leben. Das Gold war schwarz, es wurde malocht und geackert und gebuckelt. Dann bin ich irgendwann einfach weg. An die Küste bin ich gefahren. Mit jedem Kilometer wurde es heller, klarer, freundlicher. Der Himmel war nicht mehr grau sondern blau, nachts konnte ich Sterne sehen. Ich blieb lange an der See, jahrelang. Irgendwann war ich stark genug, die Orte meiner Vergangenheit zu suchen, um meine eigene Ruhe zu finden. Doch als ich zurückkam, hatte ich keine Orientierung mehr. Während meiner Abwesenheit hat sich das Revier verändert. Ich erkannte nichts mehr wieder. Die Zechen waren geschlossen, umgebaut zu Kulturzentren und Businessparks. Die Luft war gefiltert. Verzweifelt habe ich die alten Bilder gesucht. Hier auf diesem Bahnsteig komme ich zur Ruhe. Hier wird die Welt zu einem winzigen Punkt. Herne, Bochum, Paris, Duisburg, Berlin, Essen, Amsterdam, Prag, Dortmund, Westerland, Prag. In meinem Kopf kommen meine Gedanken an, wenn ich auf einem Bahnsteig sitze. Meine Mutter, zwei Gänse, der große Hund, die Bahnfahrt unter Tränen weg von Papa, Jugenderinnerungen, Kirchentage, Hochzeitsreise im Schlafwagen. Hier werden alle Orte zu einem einzigen Ort und die Zeit spielt keine Rolle mehr, alles liegt so nah beieinander. Hier geht es Richtung Vergangenheit und Richtung Zukunft gleichzeitig. Alles steht zur Verfügung, für den, der seine Möglichkeiten kennt.
Eine junge Frau setzt sich neben mich. Sie zieht ihr Handy aus der Leinentasche und schaut auf das Display. „Der Blödmann, er ist für mich nicht mehr zu erreichen.“ Sie spricht mit sich selbst, doch ich fühle mich gemeint. „Wer soll sich denn melden?“ Sie schaut mich feindselig an. „Mein Freund, er will mich für eine andere verlassen. Jetzt ist er zu feige, um mit mir zu sprechen.“ „Feige oder klug?“, frage ich. Sie schaut mich mit einer Mischung aus Ärger und Neugier an. „Wieso klug?“ „Na, denk doch mal nach. Seine Entscheidung ist doch gefallen, alle weiteren Gespräche würden euch nur Kraft rauben, oder? Das war eine außerplanmäßige Abfahrt. Es gibt kein Zurück.“ Ich reiche ihr die Hand. „Ich heiße Regina.“ Zögernd nimmt sie meine Hand und murmelt ein unfreundliches „Nadine“. „Sieh doch mal, er hat sich einfach eine andere Lebensroute ausgesucht, er kann reisen, wohin er will. Wenn du nicht loslässt, kommt Ihr beide nicht vorwärts. Ein Zug, der nicht bei dir hält, ist eben nicht dein Zug, habe ich mal gelesen.“ Nadine runzelte die Stirn. „Aber wenn mein Weg der gleiche ist wie seiner?“ „Du solltest mal deinen eigenen Triebwagen suchen, Nadine.“ Tja, antwortete sie trotzig. „Vielleicht ist mein Weg ja gleich unter einem Zug zu Ende.“ Ich sah sie abschätzend an. „Ja, vielleicht. Manche Menschen finden ihr Ende auf dem Bahnhof, manche ihren Anfang. Es soll sogar Menschen geben, die auf Bahnsteigen geboren wurden.“ Ich lächle. „Und hier sind viele auf der Suche. Manche finden hier sicher ihre große Liebe. Du vielleicht auch.“ Sie seufzt. „Du meinst das Leben ist eine Reise?“ „Ja, das meine ich. Immer, wenn denkst, du bist am Ziel, steigst du doch eigentlich schon bald in den nächsten Zug. Wer will schon auf einem Bahnsteig hocken bleiben?“ Jetzt wirkt die junge Frau ein wenig getröstet. „Ich gehe jetzt. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, “ sage ich. „Wohin willst du denn?“ fragt sie mich. „Ich will zu mir“, gebe ich zur Antwort. „Und dafür brauche ich keinen Zug.“

Copyright 2014 Stefanie Glaschke


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Beschreibung des Autors zu "Kosmos Bahnhof"

Eine Betrachtung über das Reisen und den Aufenthalt auf dem Bahnhof




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