Einmal im Leben

Es ist dunkel im Zimmer. So verdammt dunkel. Kein Lichtstrahl durchdringt die fest geschlossenen Vorhänge. Nichts stört die Ruhe. Noch nicht einmal das Ticken der Uhr ist zu hören.
Eliza liegt still und starrt auf das Fenster. Oder zumindest dorthin, wo sie das Fenster vermutet. Ihre Gedanken drehen sich wie wild im Kreis. Es ist die Silvesternacht und Eliza weiß, dass sie das Neue Jahr nicht mehr erleben wird. 95 ist sie jetzt und diese Nacht wird die letzte auf Erden für sie sein. Wenn doch nur diese verdammte Finsternis nicht wäre!
Eliza versucht den Kopf zu heben, aber es gelingt ihr nicht. Schreien möchte sie, aber kein Ton kommt über ihre Lippen. Ihre Kehle ist ausgetrocknet. Sie glaubt Schatten im Dunkeln zu erkennen und doch ist dort nichts weiter als tiefschwarze Nacht. Noch nie in ihrem Leben war sie so einsam.
Allein, ja das war sie solange sie denken kann. Immer war sie sich selbst genug und hatte nie das Bedürfnis nach Gesellschaft oder sogar Freunde. Ihre Welt waren die Bücher. Ihre Freunde erschuf sie sich selbst in ihren Geschichten. Unermüdlich schrieb sie Buch um Buch. Und sie hatte Erfolg damit. Zumindest bewiesen das die Millionen, die sich auf ihrem Konto angesammelt hatten. Aber nun, jetzt wo ihre Hand schon lange keinen Stift mehr halten kann, , was bleibt ihr jetzt? Wer hält jetzt ihre Hand oder streichelte ihr über das Gesicht? Da ist niemand, der zu ihr gehörte. Eine griesgrämige alte Frau ist sie geworden, die allein in ihrem riesigen Märchenschloss lebt. Umgeben von ihren Büchern. Stumme Zeugen eines Lebens, in dem andere Menschen nie eine Rolle spielten.
Über Liebe hat sie geschrieben. Liebe und Abenteuer durften ihre Helden erleben. Nur sie selbst hat niemals Liebe erfahren. Ihre Leser dachten immer, Eliza würde alle ihre Geschichten selbst erlebt haben, so einfühlsam schrieb sie. Niemand wusste, wie Eliza wirklich war. Sie ließ es nicht zu, dass jemand in ihre Seele schauten konnte. War es Angst, die sie daran hinderte? Eliza weiß es nicht, aber heute Nacht wünscht sie zum ersten Mal, sie hätte mit etwas weniger Verachtung auf ihre Mitmenschen herab gesehen. Einmal nur wollte sie das Gefühl haben, verliebt zu sein. Sich jemanden ganz hin zu geben, mit Körper und Seele. Einen anderen Menschen mehr zu lieben, als sich selbst. Nur einmal im Leben.

Ihre Hand tastet mühsam nach dem Glas Wasser auf ihrem Nachtisch. Sie kann es nicht fassen. Das Glas fällt vom Tisch und zerschellt am Boden.
„Herrgott, was ist denn jetzt schon wieder?“ Mit Ruck wird die Tür aufgerissen und eine resolute, wie zu einer Party gekleidete Frau erscheint.
„Was haben Sie denn, Mrs. Robins? Ich hätt´ ja nie gedacht, dass es…“. Abrupt unterbricht sich die Frau. Nein, sie kann doch der todkranken alten Frau nicht sagen, dass alle hier im Haus nur auf ihren Tod warten. So grausam kann man doch nicht sein. Obwohl, Mrs. Robins hat ja auch nie darauf Rücksicht genommen, wie grob sie zu ihren Mitmenschen und besonders zu ihren Angestellten ist. Hoffentlich kratzt der alte Drachen bald ab, vermissen wird sie ja sowieso niemand.
„Das Fenster. Vorhänge auf.“ Mühsam und mit letzter Kraft krächzt Elisa die Worte.
„Wenn`s dann sein muss, mach ich sie eben auf. Frag mich nur wozu, ist doch stockfinster da draußen.“ Mürrisch zieht die Frau die dicken schweren Vorhänge zu Seite.
„So, sind wir jetzt zufrieden? Dann kann ich ja wieder zur Party zurückgehen.“ Die Frau lacht höhnisch auf und schließt mit einem lauten Knall die Tür hinter sich.

Und wieder ist Eliza allein. Aber zumindest ist es jetzt nicht mehr so dunkel. Es ist Vollmond und eine klare Nacht. Seltsamer weise ist nur ein Stern zu sehen, der genau in Elizas Zimmer scheint. Hell und rein strahlt er und Eliza geht ein Lächeln über das Gesicht.
„Na du, bist du gekommen, um mich zu holen? Es dauert nicht mehr lange, bald bin ich bei dir“.
Eliza schaut direkt in das funkelnde Sternenlicht. Sie kann sich gar nicht satt sehen an dem hellen Strahl. Es ist schön, mit dem Bild eines Sternes in den Augen zu sterben. Etwas Schöneres kann sich Eliza kaum vorstellen.
„Doch“, flüstert da eine leise Stimme in ihrem Kopf. „Es gibt etwas viel Schöneres als einen Stern.. Die Liebe in den Augen eines anderen Menschen zu sehen, ist viel wundervoller“.
„Liebe? Liebe was ist das schon. Hab ich nie gebraucht und brauch ich wohl auch jetzt nicht mehr“
„Oh doch, Liebe braucht jedes Lebewesen. Jeder Mensch ist nur durch die Liebe ganz und richtig. Auch du, Eliza. Gerade du brauchst die Liebe am meisten. Sie mich an, schau ganz tief in meine Strahlen. Fühlst du, wie sie dich einfangen und dich umarmen? Spürst du die Wärme der Liebe? Kannst du sie fassen?“
Plötzlich strahlt der Stern mit einer Intensität, dass es ganz hell im Zimmer wird. Genau auf Eliza, die einsam in ihrem Bett liegt, fällt der Sternenstrahl und jetzt spürt sie es wirklich. Die Wärme, die von dem Stern ausgeht.
„Zeig mir die Liebe. Nur einmal im Leben möchte ich sie erleben. Zeig sie mir“, Eliza schließt langsam und zögernd die Augen. Sie möchte so gern lieben. Und wenn es das letzte ist, was sie noch tun kann. Einmal lieben und dann sterben.

Lennon sieht auf Eliza herab. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie von dieser Welt gehen. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Aber er ist überzeugt, dass es sich lohnt. Er muss ihr helfen – und sich selbst auch. Sie ist seine letzte Chance, seine Zukunft. Wenn er bei ihr versagt, hat er für alle Zeiten verloren. Nur sie kann ihm jetzt noch helfen.
Langsam streckt er seine Hand aus und berührt zärtlich ihre geschlossenen Augen.
„Du wirst die Liebe finden, Eliza. Das verspreche ich dir – wenn du es zulässt. Hab Vertrauen, dann wird es geschehen“ flüstert er. „Vertrau und liebe, du bist es wert.“

Es ist dunkel, als Eliza erwacht.
„Eliza? Wo steckt das Balg schon wieder?“ klingt die zornige Stimme ihrer Mutter zu ihr hoch. „Wenn du nicht sofort runter kommst, kannst du was erleben!“ Jetzt kommt die Stimme näher und Eliza schließt die Augen wieder. Am liebsten würde sie für immer hier auf dem Dachboden bleiben und sich vor der Welt da draußen verstecken. Aber ihre Mutter wird sie gleich finden. So, wie sie sie immer und überall findet. Die Frau hat eine Spürnase wie ein Polizeihund.
„Hier bist du also, hab ich mir doch gedacht!“ Ruth stemmt die Hände in die Hüften und schaut düster auf ihre Tochter herab.
„Was denkst du dir eigentlich dabei? Ich schrei mir die Seele aus dem Leib und du träumst hier rum! Ich hab dir schon vor einer Stunde gesagt, du sollst die Hühner füttern. Und der Boden muss auch noch gewischt werden!“
Ruth packt Eliza grob am Arm und zieht sie hoch.
„Nun los doch, sonst mach ich dir Beine!“
„Aua, Mutter, du tust mir weh“, jammert Eliza. Aber gegen den harten Griff ihrer Mutter hat sie keine Chance.
Ruth hat endgültig genug von ihrer, wie sie findet, faulen Tochter.
„Eins sag ich dir, Fräulein, wenn du so weitermachst, wirst du dein blaues Wunder erleben! Ich geb dich zu Tante Mina. Dann kannst du für deinen Unterhalt selbst aufkommen. Wollen wir doch mal sehen, wie dir die Arbeit an der Nähmaschine gefällt!“
Eliza zuckt zusammen. Der Schneiderladen ihrer Tante Mina ragt wie ein Schreckgespenst über ihr auf. Sie will auf keinen Fall dort arbeiten. Einmal, bei einem der seltenen Besuche in Dublin, hat sie den dunklen, stickigen Lagerraum gesehen, in dem ihre Tante 10 Frauen als Näherinnen beschäftigt. Der fensterlose Raum wird nur von wenigen, schwach leuchtenden Glühbirnen erhellt. Eliza könnte hier nie arbeiten. Schrecklich wäre es für sie, hier von morgens bis manchmal spät abends zu sitzen und Kleider für die vornehmen Dubliner Frauen zu schneidern, die dann in dem Geschäft ihrer Tante verkauft werden. Furchtbar wäre es für Eliza, in Dublin, der nach Rauch und Dreck stinkenden Stadt, leben zu müssen. Sie würde dort eingehen wie eine Blume ohne Wasser. Sie braucht die Weite der irischen Landschaft mit den sanften grünen Hügeln und dem kleinen Wäldchen um sich herum. Gerade das Wäldchen braucht sie. Wo sollte sie sonst hingehen, wenn mal wieder die Welt grausam zu ihr ist? Wer böte ihr dann Schutz?

Schweren Schrittes macht sich Eliza auf den Weg in den Hühnerstall. Sie hasst die pickenden, sich aufplusternden Vögel. Immer wieder versuchen diese in Elizas nackte Füße zu hacken.
„Haut ab, ihr Mistviecher! Da, hier habt ihr euer verdammtes Futter!“ Mit Schwung kippt Eliza die Körner in die Schüssel und die Hühner stürzen sich wie verrückt darauf. Dummes Federvieh, kein Verstand im Kopf, denkt Eliza und geht auf spitzen Zehen in den Stall, um dort die letzten Eier einzusammeln.
Jeden Tag das Gleiche. Nach dem Aufstehen Hühner füttern und den Stall ausmisten. Dann ein karges Frühstück aus Porridge und Tee. Danach muss sie sich dann beeilen, um pünktlich in die Schule zu kommen. Eigentlich macht ihr die Schule ja Spaß, wenn nur nicht die anderen Kinder wären. Immer wird sie geschubst und ausgelacht, dabei weiß sie nicht einmal, warum. Sicher, sie macht nie bei den Spielen der anderen mit, hält sich immer abseits. Aber was kann sie denn dafür, dass die Kinder immer so primitive Spiele spielen? Dazu ist sich Eliza einfach zu schade. Fangen spielen oder Seilspringen, so was Blödes. Da setzt sie sich doch lieber mit einem Buch an den Zaun und taucht ab in ihre eigene Welt, in der es keine lärmenden, nervigen Mitschüler gibt.

Und nach der Schule geht es weiter mit der Arbeit. Immer wieder will ihre Mutter etwas von ihr. Mal soll sie in der Küche helfen, dann wieder in dem kleinen Garten hinter dem Haus Unkraut jäten, oder noch schlimmer, ihrem Vater im Stall helfen.
„Tut mir ja leid“, sagt ihr Vater immer wieder „aber wir haben nun mal keinen Sohn, der mir helfen kann, also musst du, als unsere einzige Tochter ran“. Eliza weiß, ihr Vater meint es ja nicht böse und er braucht wirklich jede Hilfe, die er kriegen kann, aber sie hasst die Stallarbeit. Der Geruch beißt in ihre Nase und sie kann es nicht ausstehen, wenn die Kühe beim Melken mit ihren Schwänzen durch ihr Gesicht wischen. Einfach zu scheußlich und absolut ihrer unwürdig. Eliza möchte manchmal einfach nur weglaufen. Sich einfach nur verkriechen und träumen. Träumen von einem Leben voller Abenteuer und Heldentaten. Träumen von einem Leben im Schloß an der Seite eines Märchenprinzen, das wäre etwas!

Heute war wieder so ein Tag, der niemals enden wollte. Nach dem Hühnerfüttern musste sie noch ihrer Mutter in der Küche helfen. Und als sie endlich dachte, jetzt mal Freizeit zu haben, rief ihr Vater nach ihr. Kein Wunder, dass Eliza froh war, als es Abend wurde und sie ins Bett gehen konnte. Das Abendessen war heute auch nicht besonders ausgefallen. Es gab nur Milchsuppe. Aber das war eigentlich jeden Abend so. Der kleine Hof, den ihre Eltern betrieben, warf nicht besonders viel ab. Es reichte gerade mal so zum Überleben. Ihr Vater baute Kartoffeln an, aber dieses Jahr wollten die einfach nicht so richtig. Sie würden nicht den Winter über reichen und ihr Vater würde gezwungen sein, sich als Tagelöhner im Dublin zu verdingen. Dann wäre Eliza mit ihrer Mutter allein auf dem Hof. Davor graute ihr jetzt schon. Noch mehr Arbeit und keine Zeit für sich selbst.
Eliza war froh, in ihrer kleinen Kammer über dem Wohnzimmer endlich allein zu sein. Sie lag auf ihrem Bett und träumte vor sich hin. Noch nicht einmal ausgezogen hatte sie sich, so kaputt war sie. Durch die dünne Decke hörte sie unten im Zimmer die Eltern reden. Das leise Murmeln interessierte sie nicht weiter. Wahrscheinlich ging es doch nur wieder um die Ernte oder um Geld. Sie wollte davon nichts hören. Irgendwie würde es schon weitergehen. War es ja bisher auch immer.

Plötzlich wurde sie in ihren Träumen aufgeschreckt, als sie ihren Namen hörte.
„Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich mit Eliza anfangen soll. Sie ist jetzt 12 Jahre! Sie muss doch mal erwachsen werden! Wenn das so weitergeht, schick ich sie wirklich zu Tante Mina. Das war nicht nur eine leere Drohung!“ Ruth klang ziemlich aufgebracht.
„Na komm, Frau, so schlimm ist es doch auch wieder nicht. Stimmt, Eliza ist ein bisschen verträumt, aber was soll´s. Ich war doch in dem Alter genauso“, sagte ihr Vater.
Eliza konnte in seiner Stimme ein leichtes Lächeln hören. So sprach er immer mit ihrer Mutter: ein wenig herablassend und so, als ob er sie überhaupt nicht ernst nehmen würde. Ihre Mutter brachte das regelmäßig zur Weißglut. So auch heute wieder.
„Nein, John, ich meine es ernst! Eliza muss endlich aufwachen. Ab Morgen ist Schluss mit der Schule. Sie muss jetzt endlich Geld verdienen. Schau dir die Kinder von den Thomsons drüben an. Die haben alle Arbeit und bringen am Wochenende Geld nach Hause. Und was dabei herauskommt, wenn man sein Leben lang ein Träumer ist, sieht man ja bei dir! Was ist schon aus dir geworden? Ein kleiner Bauer, der noch nicht mal richtig für seine Familie sorgen kann! Ach, wäre ich doch bloß nicht aus Dublin fort gegangen! Ganz andere Chancen hätte ich da gehabt!“ Ruth seufzte schwer. Sie hatte damals einen Fehler gemacht, als sie auf Johns schöne grüne Augen hereingefallen war. Niemals hätte sie den Mann heiraten dürfen. Sie hatte sich ein besseres Leben gewünscht. Aber nun war es wohl zu spät. Sie würde hier in Dunvan versauern.

John wandte sich ab, als seine Frau wieder mit ihren Tiraden begann. Schon zu oft hatte er sie gehört. Ruth beklagte sich über alles: das Haus war ihr zu klein, sie hatten zuwenig Geld für schöne Kleider und Teppiche, die Nachbarn im Dorf Dunvan gefielen ihr nicht und so weiter und so weiter. John konnte es nicht mehr ertragen. Ja, auch er hatte sich ein besseres Leben für sich und seine Familie gewünscht. Aber es lag nicht in seiner Macht. Er versuchte ja alles was er machen konnte. Vor 15 Jahren war er froh gewesen, dieses kleine Stück Land kaufen zu können. Er hatte sich das Geld dafür mühsam in Dublin zusammen gespart. Wie stolz war er gewesen, als er es Ruth, seiner frisch angetrauten Frau, zeigen zu können. Aber von Anfang an hatte sie etwas dagegen. Sie hatte keine Beziehung zu dem Land. Wie auch. Aufgewachsen in der Stadt war sie kaum einmal aus Dublin herausgekommen. John verstand sie ja, aber er hatte geglaubt, mit der Zeit würde es besser werden. Wurde es aber nicht. Es wurde immer schlimmer und jetzt traf ihr ganzer Zorn Eliza, die überhaupt nichts dafür konnte.

„Wo soll sie denn hin? Es gibt hier doch keine Arbeit. Lass sie doch die Schule zu Ende machen. Du weißt doch, was die Lehrerin gesagt hat: Eliza ist eine gute Schülerin und sie würde sich darum kümmern, dass sie vielleicht auch Lehrerin werden kann.“ John versuchte noch einmal auf seine Frau einzureden.
„Ich hab mich schon darum gekümmert. Im Herrenhaus suchen sie ein Küchenmädchen. Eliza kann da anfangen. Sie verdient da vielleicht nicht so viel, aber wer weiß, wenn sie es geschickt anstellt, kann sie sich ja raufarbeiten.“ Ruth hatte schon alles genau geplant.
„Ins Herrenhaus? Zu den Robins? Frau, bist du übergeschnappt? Du weißt ganz genau, was man sich über die erzählt. Und außerdem sind das Engländer, die unser Land gestohlen haben! Meine Tochter wird nicht für das englische Pack arbeiten!“ John sprang aufgebracht auf und drohte seiner Frau mit der Faust.
„Dann such du doch was Besseres! Aber du wirst nichts finden! Wenn´s nicht das Herrenhaus sein soll, dann schick ich sie eben nach Dublin. Du musst dich entscheiden, die Schule ist jedenfalls für sie vorbei!“ Ruht schrie ihren Mann an. Sie wusste genau, dass John nicht gegen sie ankam. Sie würde schon ihren Willen bekommen.

Eliza lag wie erstarrt in ihrem Bett. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie wollte nicht im Herrenhaus arbeiten! Sie wollte überhaupt nirgends arbeiten. Die Schule wollte sie zu Ende machen und danach hatte ihre Lehrerin ihr versprochen, sie als Hilfslehrerin zu beschäftigen, bis Eliza die Prüfung zur Lehrerin ablegen konnte. Das war zwar auch nicht ihr Traumberuf, aber so hätte sie wenigstens die Gelegenheit weiter zu lernen und Bücher zu lesen.
Und jetzt das. Arbeit in der Küche des Herrenhauses. Auf gar keinen Fall wollte sie da hin. Den ganzen Tag eingesperrt zu sein und tun zu müssen, was ihr die Köchin sagte. Nein, und nochmals nein! Dann doch lieber weglaufen.

Eliza wartete, bis die Stimmen ihrer Eltern verstummten und sie das Zuschlagen der Schlafzimmertür hörte. Leise stieg sie aus ihrem Bett und suchte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Viel war es nicht. Ein paar Kleider zum Wechseln, ihre Haarbürste und ihren kostbarsten Besitz: ein Lexicon. Das alles packte sie in ihre Schultasche und zog ihren Mantel über. Es war zwar August, aber die Nächte konnten schon empfindlich kalt sein.

Vorsichtig schlich sie sich runter in die Küche und steckte auch noch einen Laib Brot und ein Stück Käse ein. Ihre Mutter würde toben, wenn sie den Diebstahl entdeckte. Eliza war sich nicht sicher, was schlimmer für ihre Mutter war: das gestohlene Brot oder Elizas Verschwinden.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, spürte Eliza mit einem mal die Kälte. Bibbernd hüllte sie sich fester in ihren Mantel. Dann sah sie sich um. Wohin nun? Rechts ging es ins Dorf, da wollte sie auf keinen Fall hin. Der linke Weg führte rauf ins Herrenhaus. Auch dorthin konnte sie nicht. Blieb also nur geradeaus. Kurz entschlossen machte sich Eliza auf den Weg. Als sie an der Koppel vorbeikam, hob das dösende Pferd den Kopf und schnaubte. Es wollte nicht gern gestört werden in der Nacht. Eliza blieb einen Augenblick stehen und überlegte. Sollte sie die Stute satteln und weg reiten? Aber was würde ihr Vater dann ohne das Pferd anfangen? Er brauchte es, um den Acker bearbeiten zu können und für die Wege ins Dorf. Nein, sie konnte es nicht tun. Außerdem ritt sie sowieso nicht gern auf der großen behäbigen Stute. Die war ihr, wie alle Tiere einfach nicht geheuer.

Vor Eliza tauchte jetzt im Mondschein der Wald auf. Bisher war er für sie immer eine Zuflucht gewesen. Wie oft hatte sie sich schon heimlich davongestohlen, um hier im Schatten der Bäume ihre Bücher zu lesen. Aber jetzt, mitten in der Nacht, war alles anders. Zwar schien der Vollmond, aber trotzdem sah alles so verändert aus. Ja, fast bedrohlich wirkte der Wald und die Bäume, die sich leise im Wind wiegten. Hatte sie sich das wirklich gut überlegt? War dies wirklich der richtige Weg? Plötzlich bekam Eliza Angst und wollte schon umdrehen, da sah sie zwischen den Bäumen ein Licht aufleuchten. Es flackerte unstet, ging dann wieder aus, um kurze Zeit später etwas weiter wieder aufzuleuchten. Fasziniert beobachte Eliza das Licht. Schritt um Schritt ging sie näher an den Wald heran. Wie magisch angezogen bewegte sie sich weiter.
Jetzt sprang das Licht hoch und schien sie zu locken. Und Eliza folgte dem Licht. Immer tiefer hinein in den Wald führte sie der helle Schein. Einige Male stolperte Eliza, aber immer wieder rappelte sie sich hoch und lief weiter. Sie wusste schon längst nicht mehr, wo sie sich befand, aber seltsamerweise hatte sie keine Angst mehr.

Nach Stunden, wie es Eliza erschien, obwohl es wahrscheinlich nur Minuten waren, hielt das Licht auf einmal an. Eliza ging vorsichtig näher und das Licht sprang übermütig hoch, so als ob es sich freuen würde, dass Eliza zu ihm kam. Sie streckte ihre Hand aus. Doch dann, als sie schon glaubte, das Licht erreicht zu haben, verlosch es plötzlich. Verwirrt und unsicher stand Eliza in der Schwärze der Nacht.

„He, wo bist du denn?“ fragte sie.
Keine Antwort. Hinter sich hörte sie ein Geräusch. Ein knackender Zweig vielleicht? Erschrocken drehte sich Eliza um.
„Ist da jemand?“ flüsterte sie ängstlich.

„Hab keine Angst“, erklang da auf einmal eine sanfte Stimme. „Ich will dir nichts tun, vertrau mir.“
Eliza glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Erschrocken wie ein Reh im Scheinwerferlicht stand sie still und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit. Vor Angst hatte es ihr die Sprache verschlagen.
„Schau hierher, kannst du mich sehen?“ sprach die Stimme.
Eliza schaute angestrengt in die Richtung, in der sie die Stimme vermutete. Sie kniff ihre Augen zusammen und jetzt konnte sie auf einmal sehen wie sich ein schwacher Lichtschein aus den Bäumen neben ihr löste. Das Licht wurde immer heller und kräftiger. Eliza musste ihre Augen schließen, so sehr blendete sie das Licht.

„Du kannst die Augen wieder aufmachen“, lachte da die Stimme.
Zögernd, ein Auge nach dem anderen, schaute Eliza hin. Jetzt war es auf einmal gar nicht mehr so dunkel. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald und diese Lichtung wurde von einem hellen Strahlen erfüllt.
„Hinter dir, du Angsthase.“
Eliza drehte sich einmal um sich selbst und hätte vor Schreck beinahe wieder die Augen geschlossen. Vor ihr stand ein Junge. Jedenfalls hielt sie die Gestalt für einen Jungen. Viel erkennen konnte sie nicht. Er trug eine dunkle Hose und ein dunkles Hemd. Zusätzlich hatte er noch eine schwarze Kapuze übergezogen. Eine schwarze Gestalt inmitten des Lichtstrahls.

„Wer bist du?“ Endlich hatte Eliza sich von dem Schreck erholt und ihre Stimme wieder gefunden.
„Ich bin Lennon“. Sagte der Junge und zog sich dabei die Kapuze vom Kopf. Er schüttelte sein schwarzes Haar und lächelte.
„Da hab ich dir aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt, was? Ich versteh gar nicht, warum ihr Menschen immer so eine Angst vor der Dunkelheit habt.“
„Ihr Menschen? Was bist du denn? Was willst du damit sagen?“
Eliza wurde schon etwas mutiger, als sie Lennon nun genauer sehen konnte. Dieses Bürschen jagte ihr keine Angst mehr ein. Er sah aus wie ein ganz normaler Junge aus dem Dorf. Na ja, vielleicht nicht ganz so, aber doch fast. Ein bisschen blass war er ja, das musste sie schon zugeben. Die Kinder im Dorf, und sie auch, waren sonnengebräunt. An Lennon konnte sie kein bisschen Farbe erkennen. Sein tiefschwarzes Haar stand im wild in langen Locken vom Kopf ab. Sogar seine Augen in dem weißen Gesicht leuchteten wie schwarze Kugeln.
Auf ihre Frage erhielt Eliza keine Antwort. Und es war auf einmal auch gar nicht wichtig.

„Setz dich doch, kostet das gleiche.“ Mit gekreuzten Beinen ließ sich Lennon auf den Boden sinken.
„Hast du Hunger?“ fragend hielt er ihr einen Apfel hin, den er aus seiner Tasche gezogen hatte.
„Nein, danke. Ich hab Brot… wenn du willst.“ Es erschien Eliza die natürlichste Sache der Welt zu sein, sich jetzt ebenfalls auf den Boden zu setzten und ihr Brot mit dem fremden Jungen zu teilen. Hier inmitten des Lichtscheins fühlte sie sich total geborgen. Es war ihr auch nicht mehr kalt, sondern angenehm warm. Lächelnd schaute sie zu, wie Lennon herzhaft in sein Stück Brot biss.
„Also Eliza, wo willst du eigentlich hin?“ fragte Lennon sie nun.
„Woher kennst du meinen Namen? Und wo ich hin will, geht dich doch gar nichts an!“
„Ach Eliza, ich weiß vielmehr als nur deinen Namen“, seufzte Lennon. „Aber egal, weißt du überhaupt, wo wir hier sind?“
Eliza schüttelte den Kopf. Sicher, der Wald hinter ihrem Haus war ihr vertraut, aber niemals zuvor war sie so weit vorgedrungen. Diesen Teil des Waldes kannte sie nicht.

„Wir sind hier in Tara. Weißt du was das ist?“ Lennon sah Eliza aufmerksam an.
„Natürlich weiß ich, was Tara ist. Ein alter Hügel. Die Leute aus dem Dorf lassen hier oft ihre Tiere grasen. Manche sagen auch, er ist verzaubert. Aber ich glaub da nicht dran.“
Eliza kam sich besonders klug vor. Jeder, der in Dunvan lebte, kannte Tara. Es war nichts besonders. Früher einmal, ja, da war Tara ein ganz besonderer Ort. Aber diese Zeiten waren längst vorbei.
Lennon lachte. „Ach Eliza, Mädchen, du musst noch so viel lernen. In erster Linie ist Tara das Tor zur Anderwelt. Der Sitz der Götter, wenn du so willst. Haben dir denn deine Eltern nichts über die Geschichte Irland erzählt? Ich denke, du liest so viel. Du musst doch wissen, wo du hier lebst.“
„Natürlich weiß ich das! Aber was interessiert mich das? Und überhaupt hab ich keine Lust mehr, mit dir zu reden!“ Zornig sprang Eliza auf und drehte sich von Lennon weg. Sie konnte es nicht leiden, aufgezogen zu werden. Das machten die Kinder in der Schule auch immer mit ihr und sie hasste es.

„He, Süße, beruhig dich wieder“, Lennon legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ich will mich aber nicht beruhigen. Und deine Süße bin ich schon gar nicht!“ Eliza schüttelte Lennons Hand ab.
„Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Wieder dieses spöttische Kichern. „Aber zurück zu dir. Wo willst du denn nun wirklich hin? Was hast du vor?“
„Jedenfalls nicht mehr zurück zu meinen Eltern, das ist schon mal klar. Die wollen, dass ich im Herrenhaus arbeiten soll. Aber nicht mit mir! Ich geh da nicht hin, niemals!“ Eliza drehte sich um und blickte Lennon zornig an.

„Du könntest mit mir kommen“, leise und sehr ernst sprach Lennon die Worte.
„Mit dir? Und wohin? Wer bist du überhaupt? Ich hab dich im Dorf noch nie gesehen.“
„Ich kann es dir nicht sagen. Und wohin? Du musst mir einfach vertrauen.“
„Ich? Dir vertrauen? Wie denn, wenn ich dich nicht mal kenne? Du spinnst doch!“

Eliza ließ sich wieder auf den Boden sinken. Aber Lennon hatte ja Recht. Sie wusste wirklich nicht, wohin sie gehen sollte. So weit hatte sie nicht gedacht. Im Augenblick wusste sie nur, was sie nicht wollte.

„Soviel also dazu.“ Irgendwie klang Lennon enttäuscht, als er sich jetzt ebenfalls wieder setzte. Er hatte sich das wesentlich einfacher vorgestellt. Eliza sollte sich auf den ersten Blick in ihn verlieben und mit ihm kommen. Aber so einfach war das wohl dann doch nicht. So schnell würde er aber nicht aufgeben.

Eliza betrachtete den Jungen, der ihr nun mit gesenktem Kopf gegenüber saß. Irgendetwas hatte er an sich. Sie konnte es nicht beschreiben. In seinen Haaren schien das Licht zu flirren und seine fast weiße Haut hob sich intensiv von seiner dunklen Kleidung ab. Auch wie er von der Anderswelt sprach, so als ob das für ihn etwas völlig natürliches wäre. Seltsamer Kerl. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben weckte ein anderer Mensch ihr Interesse. Bisher war es ihr egal gewesen, was die Menschen um sie herum dachten und fühlten. Es zählte für sie nur sie selbst. Sie war sich genug und auf Freunde konnte sie verzichten. Dieser Junge aber, den wollte sie näher kennen lernen.

„Lennon? Erzähl mir von dir“, bat sie leise.
„Willst du das wirklich? Ganz sicher, Eliza?“ Lennon blickte auf. Eliza nickte und Lennon sah ihr intensiv in die Augen.
„Kennst du die Geschichte vom verliebten Stern?“ fragte Lennon. Eliza schüttelte den Kopf.
„Dann hör gut zu und lerne.“ Lennon machte es sich etwas bequemer und begann seine Geschichte:

„Es gab einmal einen Streit unter den Sternen und einer wurde aus seiner Heimat im Himmel vertrieben und auf die Erde verbannt. Er wanderte mal hierhin, mal dorthin. Überall, wohin der Stern kam, betrachteten ihn die Menschen mit Staunen und Furcht. Oft beschien er die Köpfe kleiner Kinder, als wolle er mit ihnen spielen. Doch die Kinder erschraken nur und vertrieben ihn mit Geschrei.

Von allen Menschen auf der Welt hatte nur ein einziger keine Angst vor dem schönen Stern. Das war ein kleines Mädchen. Sie fürchtete den Stern nicht. Im Gegenteil, sie liebte ihn aus ganzem Herzen und war glücklich mit ihrer Liebe. Der Stern schien ihre Liebe zu erwidern, denn wo auch immer das Mädchen durch die Wildnis wanderte, wanderte auch der Stern mit. Wenn sie nachts aufwachte, schwebte der Stern direkt über ihrem Kopf.

Die Leute wunderten sich über die Treue des Sterns. Sie wunderten sich aber noch mehr, als sie sahen, dass der Vater des Mädchens immer mit einer großen Menge Wild von seinen Jagdausflügen heimkehrte.
„Der Stern muss verzaubert sein“, sagten sie und immer sprachen sie von ihm mit Ehrfurcht und Respekt.

Nach einigen Monaten kam der Mittsommer und das Mädchen ging allein in die Wälder hinaus, um Beeren zu sammeln. Sie wanderte mit ihrem Korb in einen großen Wald hinaus. Aber dort verirrte sie sich. Voller Angst rief sie nach ihrem Vater. Aber niemand hörte sie. Auch als es dämmerte, hatte sie den Weg noch nicht wieder gefunden und wanderte immer tiefer in den Wald hinein. Als es Nacht wurde, blickte sie zum Himmel, in der Hoffnung, den Stern, den sie liebte, zu sehen, damit er ihr den Weg nach Hause zeigte. Doch der Himmel war mit Wolken bedeckt. Ein Gewitter kam auf und bald regnete es in Strömen.
Zum Entsetzen des Mädchens stieg das Wasser immer höher. Die Erde unter ihr gab nach und verschluckte sie.

Die Jahre vergingen und der Stern schien immer noch über den Menschen, doch sein Licht wurde trübe und niemals blieb er lange an einer Stelle. Er sah immer so aus, als hielte er nach etwas Ausschau, was er doch nicht finden konnte.
„Er ist unglücklich über den Tod des Mädchens, das er liebte“, sagten die Leute.

Mit der Zeit verschwand der Stern. Der nächste Winter war kalt und lang. Ihm folgte ein heißer Sommer. In diesem Sommer folgte ein junger Jäger einem Hirsch in einen der großen Sümpfe des Landes. Zu seinem Erstaunen erblickte er plötzlich ein kleines Licht, das anscheinend über dem Wasser hing. Es war so schön, dass er ihm eine lange Strecke folgte, doch es führte ihn zu so gefährlichen Stellen, dass er schließlich aufgab und umkehrte, um seinen Leuten zu erzählen, was er gesehen hatte. Da erklärte ihm der älteste Mann des Dorfes: „Das Licht, das du gesehen hast, ist der Stern, der aus dem Himmel vertrieben war. Auch jetzt noch wandert er über die Erde und hält nach dem schönen Mädchen, das er liebte, Ausschau.“

Auch heute noch ist dieser Stern ganz dicht bei der Erde. Oft wird er von Jägern, die nachts durch die Wildnis streifen, erblickt. Aber niemals wieder hat er sich einem Menschen so angeschlossen, wie dem Mädchen, das er liebte.“

Mit Tränen in den Augen hatte Eliza Lennons Geschichte gelauscht. So etwas hatte sie noch nie gehört. Lange Zeit, nachdem Lennon aufgehört hatte zu sprechen, schaute sie in seine Augen und glaubte, dort das Licht des Sternes zu sehen. Immer heller wurde es und strahlender.
„Wo immer du bist, was immer du tust, ich werde bei dir sein“, flüsterte Lennon zärtlich und verschwand.

Als Eliza in ihrer kleinen Kammer erwachte, hatte sie Kopfschmerzen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
Von unten hörte sie ihre Mutter rufen: „Eliza, komm runter. Du musst gleich in die Schule!“
Schule? Nicht arbeiten im Herrenhaus? Gott sei dank, es war nur ein Traum gewesen. Aber er war so intensiv und real. Sie konnte immer noch das Licht auf ihrer Haut spüren und sah immer noch Lennos Augen. Dann lachte Eliza beruhigt auf. Alles war noch beim Alten. Alles war gut. Sie lag in ihrem Bett, ihre Mutter war schon wieder am Nörgeln und sie musste gleich in die Schule.

Da sah sie plötzlich ein Blitzen neben sich auf dem Kissen. Vorsichtig nahm sie es auf. Es war eine dünne goldene Kette mit einem kleinen Amulett. Es zeigte zwei Hände, die einen Stern umfasst hielten.


Die Jahre vergingen, und Eliza war nun 16 Jahre. Zu Hause hatte sich eigentlich nicht viel verändert. Außer vielleicht, dass ihre Mutter mit der Zeit immer unleidlicher wurde. Sie war ständig am meckern und stand schon morgens unzufrieden auf. Eliza war immer froh, wenn sie das Haus in aller Frühe verlassen konnte. Immer noch ging sie jeden Tag in die Schule. Aber jetzt nicht mehr als Schülerin, sondern als Hilfslehrerin. Mrs. Shuman hatte Wort gehalten und dafür gesorgt, das Eliza an der kleinen Dorfschule ihre Ausbildung machen konnte. Eigentlich sollte Eliza glücklich sein, aber sie war es nicht. Die Arbeit machte ihr keinen Spaß. Sie hasste die Kinder, die sich ständig über sie lustig machten und einfach so furchtbar dumm waren. Wenn ihnen Eliza etwas erklären wollte, lachten sie nur und hörten nicht zu. Es war frustrierend. Kein Wunder, dass Eliza sich wieder in ihre eigene Welt flüchtete. Die Schule hatte eine kleine Bibliothek und alle Bücher, die dort in den Regalen standen, hatte Eliza schon mehrfach gelesen. Stundenlang konnte sie sich hier verkriechen und in die Welt der Romane und Geschichten abtauchen. Auch heute saß sie wieder auf der Fensterbank und hielt ein Buch in den Händen.

„Eliza? Kind, bist du da?“ Eliza seufzte, als sie die Stimme ihrer alten Lehrerin hörte.
„Ja, Mrs. Shuman, ich bin hier.“ Eliza klappte schweren Herzens das Buch zu und stand auf.
„Ach, diese Treppen. Bald schaffe ich das nicht mehr.“ Mrs. Shuman kam auf ihren Stock gestützt in die Bibliothek.
„Ich muss mal mit dir reden, mein Kind“, die alte Frau schlurfte schwerfällig zu dem Sessel. „Komm, setz dich zu mir“, sagte sie.
„Was ist denn los? Soll ich wieder eine ihrer Stunden übernehmen?“ Immer öfter in der letzten Zeit musste Eliza für die alte Lehrerin einspringen, mit deren Gesundheit es immer mehr bergab ging.
„Nein, diesmal nicht.“ Mrs. Shuman seufzte. Es fiel ihr nicht leicht, das zu sagen, was ihr schon lange auf der Seele lag. Aber es musste sein.
„Ich werde weggehen von hier, hab meine Stelle gekündigt. Ich schaff es einfach nicht mehr. Du muss dir etwas anderes suchen.“
„Wie, gekündigt? Was soll denn aus mir werden?“ Eliza sprang auf und schaute zornig auf die alte Frau herunter. Jetzt hatte sie jahrelang für die Lehrerin geschuftet, hatte im Grunde deren Arbeit gemacht und nun hieß es einfach: such dir was anderes? Eliza konnte es nicht glauben.
„Nun beruhig dich doch erstmal. Und tu doch nicht bitte so, als ob es dir etwas ausmachen würde, den Job hier zu verlieren. Ich weiß doch genau, dass er dir gar nicht so viel Spaß gemacht hat, oder?“ fragend schaute Mrs. Shuman das junge Mädchen vor sich an. Eliza war eine gute Schülerin gewesen und vor ein paar Jahren war Mrs. Shumann der Meinung, sie könne auch eine gute Lehrerin werden. Aber dem war leider nicht so. Eliza war klug, ohne Frage, aber sie hielt sich auch für etwas Besseres. Sie konnte einfach nicht mit den Kindern umgehen. Sie verachtete sie regelrecht. Natürlich merkten die Kinder das auch und tanzten Eliza auf der Nase herum. Das war auch der Grund, warum sie Eliza noch nicht zu der Prüfung als Lehrerin zugelassen hatte. Lehrerin war nicht der richtige Beruf für das Mädchen.

„Sie haben ja Recht“, leise sprach Eliza das aus, was sie selbst auch schon eine Weile wusste. Sie hasste es, jeden Morgen wieder das Schulgebäude zu betreten, sie hasste den Anblick der lachenden Kinder, die sich ständig über sie lustig zu machen schienen und sie hasste es, ihnen etwas beibringen zu wollen, was sie im nächsten Augenblick sowieso wieder vergessen würden. Nein, Lehrerin war nicht ihre Berufung. Aber was war es dann? Eliza wusste ja selbst nicht, was sie überhaupt wollte. Wenn es nach ihrer Mutter gehen würde, sollte sie nach Dublin gehen und bei Tante Mina arbeiten, ihrem Vater wäre es am liebsten, sie würde einen Bauern heiraten, dem er dann den Hof übergeben konnte und Mrs. Shuman wollte sie nicht mehr haben. Jeder wollte irgendetwas von ihr, aber nichts davon wollte Eliza.

„Aber was soll ich denn machen? Ich will nicht nach Dublin und hier gibt es doch keinen anderen Job für mich. Soll ich im Pub arbeiten?“ Eliza spielte auf die Dorfkneipe an. Der Wirt hatte sie schon einige Male, wenn sie ihren Vater mal wieder dort betrunken abholte, anzüglich angesehen und gefragt, ob sie nicht bei ihm „aushelfen“ wolle. Auf keinen Fall, dachte Eliza, niemals!

„Es gibt da noch eine andere Möglichkeit, mein Kind. Im Herrenhaus, bei den Robins, suchen sie jemanden, der sich mit Büchern auskennt. Die Bibliothek dort soll katalogisiert werden und dafür brauchen die wen. Das wäre vielleicht was für dich.“ Mrs. Shumann sah fragend zu Eliza.

„Im Herrenhaus? Bücher?“ Eliza musste sich erst mal wieder setzen. Ihre Gedanken rasten. Sich den ganzen Tag mit Büchern beschäftigen? Nur Bücher, keine Menschen? Das wäre ja ein Traum für sie. Aber nein, es ging nicht. Ihr Vater würde es niemals erlauben. Er hasste die Robins, die Engländer, die nach der Landenteignung in Irland vor ein paar Jahren in das alte Herrenhaus eingezogen waren. Er konnte es einfach nicht verzeihen, dass die Robins jetzt das ganze schöne Land um Dunvan verwalteten und die Bauern Pacht an sie zahlen mussten. Er war der Meinung, das Land solle den irischen Bauern gehören und nicht den vermaledeiten Engländern. Eliza interessierte sich nicht für Politik, aber sie wusste genug, um zu glauben, dass ihr Vater sehr gegen diese Arbeit sein würde. Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin.

„Soll ich mit deinen Eltern reden?“ Mrs. Shuman wusste, wie Elizas Vater von den neuen Besitzern des Herrenhauses dachte. „Würde das helfen?“
„Ich weiß nicht. Es wäre wohl besser, wenn ich das selbst mache.“ Eliza stand langsam auf und ging zur Tür.
„Nur wie ich das machen soll, weiß ich noch nicht“, flüsterte sie leise. Sie musste nachdenken. Und es gab keinen besseren Ort zum Nachdenken als den Hügel von Tara.

Eliza hatte keine Angst mehr vor dem Wald, den sie jetzt im hellen Tageslicht durchquerte. Seit dem Traum von Lennon vor einigen Jahren hatte der Wald all seine Schrecken für sie verloren. Und der Hügel von Tara war zu ihrem Zufluchtsort geworden, wann immer sie über etwas nachdenken musste oder sie Sorgen hatte. Bald hatte sie die Lichtung im Wald erreicht. Tor zur Anderswelt hatte Lennon Tara genannt. Eliza fragte sich oft, ob die Begegnung wirklich nur ein Traum gewesen war. Ihr Verstand sagte „ja“ aber ihr Gefühl meinte etwas anderes. Und wo war die goldene Kette auf einmal hergekommen? Eliza trug sie seit dem Abend ständig verborgen unter ihrem Kleid. Niemanden hatte sie davon erzählt.

Nahe beim Lia Fáil, dem Schicksalstein, der mitten auf der Lichtung stand, ließ sie sich nieder. Tastend suchte ihre Hand nach der Kette. Vorsichtig umfasste Eliza das Amulett und schloss die Augen.

„Na, bist du wieder am träumen?“ fragte da eine spöttische Stimme.
Eliza sah hoch und vor ihr im hellen Sonnenlicht stand Lennon. Wie damals war er dunkel gekleidet und trug eine Kapuze. Diese schlug er jetzt nach hinten, grinste und ließ sich vor Eliza auf den Boden sinken. Er hatte sich verändert, war älter geworden. Eliza schätze, dass er ein paar Jahre älter war als sie.
„Ich träume nicht, ich denke nach“, Eliza reagierte gereizt auf Lennon und wusste nicht einmal wieso. Insgeheim hatte sie sich doch gewünscht, dass er erscheinen möge.
„Wieso musst du da noch nachdenken? Ist doch klar, was du machen wirst. Du gehst natürlich zu den Robins“. Für Lennon schien der Fall ganz klar zu sein.
„Da weißt du aber mehr als ich“, sagte Eliza
„Natürlich weiß ich mehr“, lachte Lennon. „Ich weiß alles. Obwohl, es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit: du kommst mit mir“.
„Nicht schon wieder! Ich hab dir schon mal gesagt, ich komme nicht mit dir. Wer bist du überhaupt? Du bist doch bloß ein Traum“.
„Ja, dein Traum, da hast du Recht“. Lennon seufzte und stand auf. Er legte die Hand an den Stein hinter sich und ließ den Kopf sinken. So ging es einfach nicht. Eliza würde niemals einfach so mit ihm gehen. Er musste einen anderen Weg finden.

„Eliza, komm mal her zu mir“, bat er das Mädchen. Als sie zu ihm trat, nahm er ihre Hand und legte sie ebenfalls auf den Stein.
„Sag mir, was du fühlst“, flüsterte er.
Eliza war bei Lennons Berührung zusammengezuckt. Wie konnte sich ein Traum so real anfühlen? Ihre Hand berührte den kalten Stein unter sich und plötzlich spürte sie Wärme. Es war, als würde der Stein leben, er pulsierte. Erschrocken wollte sie ihre Hand wegziehen, aber Lennon hielt sie fest.
„Nein, hab keine Angst. Vertrau mir einfach. Was fühlst du?“
„Ich fühle Wärme“, sagte Eliza zögernd.
„Gut, und was noch?“ ernst blickte Lennon auf das Mädchen neben sich.
„Nur Wärme“. Eliza schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, was Lennon noch von ihr wollte.
„Liebe? Fühlst du vielleicht Liebe?“ fragte er da eindringlich.
„Blödsinn, Liebe kann man nicht fühlen“, Eliza zog mit einem Ruck ihre Hand weg.

„Natürlich kann man das! Eliza, Liebe kannst du überall spüren! Du musst es nur wollen. Schau dich doch um! Überall hier um dich herum ist Liebe. Lass es doch endlich zu!“ Lennon packte Eliza an den Schultern und drehte sie zu sich herum. Aber sie schaute ihn nur mit verständnislosen Augen groß an. Lennon verstand die Welt nicht mehr. Wusste Eliza etwa immer noch, was Liebe war? Konnte sie wirklich nicht sehen, wie sehr er sie liebte? Dann dachte er nach. Nein, sie wusste es nicht. Wie auch? Eliza war noch nie verliebt gewesen, sie hatte noch nie gespürt, wie es ist, wenn die Gedanken immer nur um den einen, einzigen Menschen kreisten. Sie wusste nicht, wie es war, einmal glücklich und im nächsten Augenblick zu Tode betrübt zu sein. Sie hatte keine Ahnung, was die Liebe mit einem Menschen machen konnte. Er verlangte einfach zu viel von ihr.
Zärtlich strich Lennon Eliza über die Wange und ließ sie dann los.
„Es ist mal wieder Zeit für eine Geschichte, denke ich“, sagte er dann. „Hör zu und lerne“.
Und Lennon begann zu erzählen:

Dies ist die Geschichte von Ailis, dem Elfenmädchen, das die Liebe suchte.
Ailis gehörte zu dem Stamme der Sidhe. Das sind die Elfen, die das irische Land bevölkerten. In den alten Zeiten hat man sie öfter mal gesehen, mittlerweile trifft man sie immer seltener an, was aber nicht daran liegt, dass es keine Elfen mehr gibt, sondern daran, dass sie mit dem Menschenvolk keinen Kontakt möchten. Die meisten Menschen sehen die Elfen als schön und wundersam an. Das stimmt sicherlich auch, aber die Elfen haben zu den Menschen ein eher gestörtes Verhältnis. Sie halten die Menschen für eigenartig, unberechenbar und schwach. Die Menschen haben für die Elfen ein viel zu einnehmendes Wesen. Menschen nehmen alles gefangen, nicht nur sich selbst, sondern auch materielle Dinge, Gedanken, die Natur, die Buchstaben in den Wörtern, die Kunst, eben einfach alles. Dabei haben die Menschen den Blick für das Wesentliche längst verloren.

Elfen sind da ganz anders. Sie verehren alles, was schön ist: die Natur, und den Gesang der Vögel, das Meer und den Wind. Niemals würden sie einem anderen Lebewesen bewusst Schaden zufügen. Und noch einen großen Unterschied zwischen den Elfen und den Menschen gibt es: die Elfen haben ein kaltes Herz; sie können keine Gefühle zeigen. Wenn du einem Elfen in die Augen siehst, wirst du da zwar die Weisheit der ganzen Welt erkennen, aber keinen Funken echten Mitgefühls oder gar Liebe. Die Elfen können nicht lieben.

Ailis war nun nicht gerade das typische Elfenmädchen. Sie war von klein auf fasziniert von den Menschen. Wo immer sie konnte, schaute sie ihnen zu und belauschte sie. Oft verstand sie nicht, was die Menschen sagten oder taten. Sie waren ihr in vielen Dingen völlig fremd. Aber Ailis spürte auch genau, dass sich hinter dem oft unberechenbaren Verhalten der Menschen etwas sehr Geheimnisvolles verbergen musste.

Ihr Mutter schimpfte oft mit ihr, wenn sie sie wieder einmal dabei erwischte, wie sie den Menschen hinterher spionierte, aber eine unwiderstehliche Kraft zog Ailis immer wieder zurück. Besonders angetan hatte es ihr ein junger Ritter, der auf dem Schloss Muckross lebte. Oft schaute Ailis ihm beim Üben mit den anderen Rittern auf dem Feld zu oder folgte ihm unbemerkt in das Schloss. Denn noch ein großes Geheimnis hatten die Elfen: sie konnten sich unsichtbar für die Menschen machen. So gelang es Ailis, Sean, den jungen Ritter, bei vielen Gelegenheiten zu beobachten und zu begleiten. Manchmal ritt sie sogar mit ihm auf seinem Hengst aus, ohne dass Sean etwas davon bemerkte.

Besonders aufmerksam schaute Ailis zu, wenn Sean sich mit den Frauen aus der Burg unterhielt. Und was sie gar nicht verstehen konnte, war, dass Sean manchmal seine Lippen auf die einer Frau drückte und dass es den beiden sogar noch zu gefallen schien. So etwas war in der Welt der Elfen undenkbar. Niemals würde ein Elf einem anderen so nahe treten, schon die kleinsten Berührungen lösten Schauder bei ihnen aus. Deshalb konnte sich Ailis auch gar nicht vorstellen, wie sich dieses Lippenberühren anfühlen sollte.

Und die Gespräche, die Ailis belauschte, gaben ihr immer wieder Rätsel auf: es ging häufig um etwas, was sich Liebe nannte. Liebe, dachte Ailis, was ist das denn bloß? Sie fragte ihre gesamte Familie und keiner konnte es ihr erklären. Es musste etwas völlig Unwichtiges sein, sagte man ihr immer wieder. Die Elfen kommen auch gut ohne Liebe zu Recht, also wozu sich darüber Gedanken machen?

Ailis aber gab nicht auf. Sie wollte wissen, was es mit der Liebe auf sich hatte. So viele Lieder besangen die Liebe und so viele Bücher wurden darüber geschrieben. Ailis konnte zwar die Menschensprache nicht lesen, aber sie lauschte oft, wenn eine Frau auf dem Schloss den anderen aus den Büchern vorlas. Immer wieder, wenn sie das Wort Liebe erwähnte, verdrehte sie ganz verzückt die Augen und Ailis wollte nun unbedingt hinter das Geheimnis kommen.

Eines Tages saß sie mal wieder auf dem Zaun und schaute Sean beim Üben zu. Ihr gefiel alles an ihm. Seine Haare glänzten schwarz in der Sonne, sein Lächeln schien nur ihr zu gelten (obwohl er sie gar nicht sehen konnte, wie Ailis ganz genau wusste) und seine Augen strahlten. Aber irgendwas schien heute mit Sean nicht zu stimmen. Er war unkonzentriert und machte viele Fehler. Als ein anderer Ritter ihn darauf ansprach, sagte Sean nur: „Ich bin verliebt!“ Ailis spitzte die Ohren (die sind bei Elfen besonders spitz, mit kleinen weichen Puscheln oben drauf). Sollte sie jetzt endlich das Geheimnis der Liebe gefunden haben? War es etwas, was die Menschen verwundbar und schwach machte? Ja, so musste es sein, wenn sie sich Sean ansah. Aber warum dann sein strahlendes Lächeln? Es konnte ihn doch nicht wirklich freuen, wenn er Fehler machte? Ailis verstand das alles nicht.

Sean erzählte dem anderen Ritter von einer Frau, die er getroffen hatte und in die er sich verliebt hatte. Der andere aber lachte ihn nur aus. Sean könne das doch unmöglich ernst mit der Frau meinen. Wusste er etwa nicht, was das für eine war? Die verführte doch aus Spaß jeden Mann, den sie haben konnte. Nein, diese Frau war Seans Liebe gar nicht wert! Sean solle erst mal wieder aufwachen und klar im Kopf werden. So dumm könne er doch gar nicht sein, dass er nicht erkenne, dass die Frau nur mit ihm spiele. Der Ritter lachte sehr über den verdutzten Sean.

So, dachte Ailis sich, Liebe macht die Menschen also schwach und lässt sie Dinge tun, die sie eigentlich bei klarem Verstand gar nicht tun würden? So ein komisches Ding die Liebe. Und obwohl Elfen ja keine Gefühle haben, empfand Ailis auf einmal tiefes Mitgefühl für Sean. Sie verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Gern wollte sie Sean trösten und sie wollte ihn so gern berühren. Ailis erschrak sehr über sich selbst und lief so schnell sie konnte nach Hause. Es war ihr unbegreiflich, was da mit ihr passierte und sie suchte verzweifelt nach einer Antwort. Aber keiner aus ihrer Familie konnte ihr helfen. Alle sahen sie nur mit kalten blauen Augen an und verstanden nicht, wovon Ailis eigentlich sprach.

Sie setzte sich ins Gras und überlegt, wen sie denn noch fragen konnte. Da sah sie eine alte Frau, die Kräuter sammelte. Sie kam auf Ailis zu und lächelte sie an. Nun wusste Ailis, dass die Frau kein Mensch sein konnte, da sie sie ja sehen konnte. Aber eine Elfe war das auch nicht.

„Wer bist du?“ fragte Ailis die alte Frau. Diese lachte nur und erzählte ihr, dass sie eine Zauberin sei und schon viele hundert Jahre auf der Erde lebe. Oh, dachte sich Ailis, die ist genau richtig. Wenn die nicht weiß, was Liebe ist, dann weiß es keiner. Und so erzählte ihr Ailis von Sean und von ihrer Suche nach der Liebe und von den seltsamen Gefühlen, die sie jetzt spürte.

„So, so“, sagte die alte Frau „Du willst also wissen, was die Liebe ist? Bist du dir da auch ganz sicher? Weißt du denn nicht, dass Liebe für Elfen etwas sehr Gefährliches sein kann? Die Elfen verlieren doch ihre Unsterblichkeit, wenn sie einmal lieben sollten. Willst du das wirklich?“ Ailis überlegt lange und nickte dann. Alles, was sie bisher von der Liebe gehört und gesehen hatte, hatte ihr so sehr gefallen und sie war bereit, dafür sogar ihre Unsterblichkeit zu verlieren.

„Na gut, dann soll es so sein. Geh zu deinem Sean und du wirst die Liebe finden. Lauf schnell, denn Sean braucht dich jetzt gerade!“ Während die alte Frau noch sprach, verschwand sie nach und nach vor Ailis Augen. Sean war in Gefahr? So schnell sie konnte lief Ailis wieder zu dem Schloss. Und hier musste sie zu ihrem großen Schreck mit ansehen, wie ein gewaltiger Kampf vor den Toren des Schlosses tobte. Ailis konnte wie alle Elfen nicht verstehen, wie die Menschen sich bloß so bekämpfen konnten. Und die Menschen sind noch nicht mal unsterblich wie die Elfen, dachte sie. Was hatte es denn für einen Sinn zu kämpfen, wenn man hinterher tot ist? Aber all das war Ailis im Augenblick auch egal. Sie suchte Sean.

Da! Endlich sah sie ihn! Er kämpfte mit einem anderen Ritter und es sah gar nicht gut für ihn aus. Immer wieder trafen ihn die Hiebe des Gegners und Sean verlor immer mehr an Kraft. Und dann war es soweit: der Ritter schlug ein letztes Mal zu und Sean fiel um wie ein Baum. Obwohl es den Elfen unter Strafe verboten war, in die Kämpfe der Menschen einzugreifen, konnte Ailis nicht anders: sie legte einen Bindezauber über den fremden Ritter. Der erstarrte mit hoch erhobenem Schwert und Ailis eilte an Seans Seite. Traurig betrachtete sie den jungen Ritter, der aus vielen Wunden blutete. Wenn sie doch bloß helfen könnte, dachte Ailis, aber sie konnte Tote nicht wieder zum Leben erwecken.

Wieder verspürte Ailis einen stechenden Schmerz in der Brust. Diesmal noch stärker, als beim ersten Mal. Vor ihren Augen verschwamm plötzlich alles und sie konnte nur noch unklar sehen. Ailis wusste, was das war. Sie hatte schon bei den Menschen Tränen gesehen, aber die waren ihr genauso fremd wie die Liebe. Warum hatte sie auf einmal Tränen in den Augen? Und nun liefen diese Tränen auch noch über ihr Gesicht und tropften auf Sean. Sie benetzten seine Augen und seine Lippen und einige liefen sogar bis in seine Ohren.

Plötzlich schlug Sean die Augen auf und er glaubte, im Himmel zu sein. Über ihn beugte sich eine wunderschöne Gestalt, die nur ein Engel sein konnte. Ohne auch nur zu wissen, wer das war, sagte Sean: „Ich liebe dich.“. Durch Ailis Herz schoss ein Blitz, alles flimmerte vor ihren Augen, die Welt drehte sich um sie herum und ihre Beine fühlten sich wie Pudding an. Das war Liebe? So ein starkes und wunderbares Gefühl sollte das sein? Die kleine Elfe konnte es nicht fassen. Sie hatte doch tatsächlich die Liebe gefunden! Hier auf dem Schlachtfeld blickte sie in die Augen des jungen Ritters und sah dort alles, was sie sich jemals erträumt hatte. Ihr Herz war auf einmal nicht mehr kalt. Sie konnte fühlen und lieben und weinen und lachen. Und ihre Augen strahlten mit der Sonne um die Wette.

Was Ailis erst viel später erfahren sollte, war, dass sie mit ihren Tränen Sean wieder ins Leben zurückgeholt hatte. Denn die Tränen einer Elfe sind so selten, dass sie alles Leid der Welt heilen können. Alles, was sie wollte, fand sie in dem liebevollen Blick Seans. Die alte Frau hatte Recht gehabt, sie hatte ihre Unsterblichkeit verloren, aber sie hatte dafür die Liebe gefunden und welche Elfe konnte das schon von sich behaupten?

Verträumt sah Eliza Lennon an, als er seine Geschichte beendet hatte.
„Arme kleine Elfe“, sagte sie dann betrübt.
„Arme Elfe? Spinnst du, wieso denn arme Elfe?“ Lennon verstand die Welt nicht mehr.
„Sie hat doch jetzt die Liebe, so wie sie es wollte. Und du kannst mir glauben, der geht es jetzt gut, sehr gut sogar.“
„Ja, toll. Sie hat jetzt die Liebe. Und was musste sie dafür aufgeben? Ihre Unsterblichkeit! Was ist schon Liebe gegen Unsterblichkeit?“ Eliza sprang auf und sah entrüstet auf Lennon, der mit zusammengekniffenen Augen zu ihr aufschaute.
„Ach, hör mir auf mit Unsterblichkeit! Als ob das so wichtig ist! Was nützt dir denn die tolle Unsterblichkeit, wenn alle deine Freunde und Familie um dich herum wegsterben? Immer, wenn du meinst, wieder einen Menschen gefunden zu haben, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen willst, stirbt er dir weg! Und dann bist du wieder allein! Ja, ganz toll Unsterblichkeit ist wirklich super!“ Lennon war sehr aufgebracht und baute sich vor Eliza auf.
„Wach doch endlich auf, Eliza! Es geht um Liebe und nichts anderes auf der Welt ist so wichtig wie sie! Begreif das doch endlich! Es gibt nichts Schöneres, als wenn jemand dich liebt!“ Lennon schrie Eliza zornig an.

„Wer sollte sich schon in mich verlieben? Sieh mich doch an! Das glaubst du doch selbst nicht.“ Eliza schnaubte. Schließlich wusste sie genau wie sie aussah und wenn Lennon das nicht sah, war er blind. Eine wie sie wollte doch niemand haben.

„Nun ist es aber genug!“ Lennon war jetzt ernsthaft böse. Er wedelte mit seiner Hand kurz durch die Luft und mitten auf der Wiese erschien ein mannshoher Spiegel. Lennon griff nach Elizas Hand und zog sie vor den Spiegel. Mit den Händen auf ihren Schultern blieb er dich hinter ihr stehen.
„Jetzt sag mir, was du siehst“, forderte er das Mädchen eindringlich auf.

Eliza war unter Lennons hartem Griff zusammengezuckt und ließ eingeschüchtert den Kopf hängen. Lennon verstärkte seinen Griff, so dass es fast schmerzte und Eliza schaute nun unsicher in den Spiegel.
„Ich sehe mich. Meine Augen sind zu grün. Und sieh dir meine Nase an, die ist viel zu lang. Mein Mund ist zu groß und meine Haare erst - schrecklich. Alles an mir ist so langweilig“, flüsterte sie dann.

Lennon seufzte und seine Hände strichen zärtlich über Elizas Arme.
„Soll ich dir sagen, was ich sehe?“ wisperte er dann dicht an ihrem Ohr.
„Ich sehe ein wunderschönes Mädchen mit Augen so grün wie die irischen Seen. Ertrinken könnte ich darin. Mit einer Figur, wie eine Elfe, so zart und bezaubernd. Und erst die Haare. Ich hab noch nie solche Haare gesehen. Sie schillern in allen möglichen Farben, mal braun, dann blond und wieder golden.“ Lennon nahm eine Strähne von Elizas ungebändigten Locken in die Hand und vergrub sein Gesicht darin.
„So lange ich lebe, habe ich kein schöneres Mädchen gesehen. Und erst dein Mund, Eliza. Dein Mund fordert doch gerade dazu heraus, geküsst zu werden.“ Ganz behutsam drehte Lennon Eliza in seinen Armen herum, beugte sich zu ihr und küsste sie sanft auf den Mund.

Eliza war bei Lennons Worten ganz warm geworden. Sie konnte gar nicht glauben, was er da sagte. Er fand sie wirklich schön? Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Ihre Mutter hatte bloß immer ihre Fehler aufgezählt und auch von ihren Mitschülern damals wurde sie wegen ihrer vielfarbigen Haare immer ausgelacht. Und Lennon fand sie schön? Und als sie nun seine Lippen auf ihren fühlte, durchströmte sie ein Gefühl, wie sie es noch nie gekannt hatte. Es war ihr erster richtiger Kuss. Vielleicht hatte Lennon doch Recht, und Liebe konnte etwas Wunderbares sein. Sie glaubte, vielleicht doch ein bisschen verstehen zu können, was er meinte. Also schloss Eliza die Augen und gab sich diesem Gefühl hin. Aber gerade, als sie den Mut gefasst hatte, Lennons Kuss zu erwidern, ließ er von ihr ab.

Ernst sah Lennon Eliza in die Augen. „Du musst jetzt gehen. Lauf nach Hause. Und vergiss niemals, wo immer du bist, was immer du tust, ich werde bei dir sein.“ Noch einmal drückte er Eliza kurz an sich und löste sich auf.

Wie in Trance sah Eliza auf die Stelle, an der eben noch Lennon und der Spiegel gestanden hatten. Dann drehte sie sich um und rannte nach Hause.
Als sie dort ankam, stand ihre Mutter in der Tür. „Dein Vater ist tot“ sagte sie tonlos.

Fünf Jahre waren nach diesen schicksalhaften Worten vergangen. Jahre, die für Eliza alles verändert hatten. Sie war nicht nur älter geworden, endlich wusste sie auch, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Nachdem ihre Mutter ihr diesen Satz vor Jahren an den Kopf geknallt hatte, war einiges geschehen. Ihr Vater war auf dem Weg von der Kneipe betrunken zusammengebrochen, in einen Graben gerollt und dort an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Ihre Mutter konnte gar nicht schnell genug die Beerdigung hinter sich bringen. Sie verzog keine Miene, als der Sarg ihres Ehemanns der Erde übergeben wurde. Wie ein Schleier zogen diese Tage an Eliza vorbei. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass ihr Vater, den sie trotz seiner Alkoholsucht geliebt hatte, auf einmal nicht mehr da war. Es war so schnell gegangen und sie hatte sich noch nicht einmal von ihm verabschieden können.

Aber als sie dann am Grab stand, ihre Mutter mit ausdrucklosem Blick neben sich, flossen ihre Tränen in Strömen. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wer sollte den Hof bearbeiten, sich um die Tiere kümmern? Eine Antwort auf diese Fragen erhielt Eliza schneller, als ihr lieb war. Kaum waren sie wieder zu Hause, packte ihre Mutter ihre Sachen. Sie nahm alles mit, was sich vielleicht zu Geld machen ließe. Sogar einen Fuhrmann hatte sie bestellt, mit dessen Hilfe sie jetzt sogar einen Großteil der Möbel auflud. Nur das Ehebett ließ sie da.
„Was soll ich mit dem schäbigen Ding? Bring eh kein Geld ein“, sagte sie.
Eliza sah wortlos dem Treiben ihrer Mutter zu.
„Was hast du vor, Mutter?“ fragte sie dann leise.
„Na, was wohl? Ich gehe nach Dublin. Hier hält mich nichts mehr. Endlich komm ich weg von diesem abscheulichen Ort!“ Ihre Mutter hielt angewidert eine alte Hose ihres Ehemanns hoch.

„Und was ist mit mir?“ fragte Eliza. Aber eigentlich war das nur eine rhetorische Frage. Die Antwort ahnte sie schon.
„Das ist mir egal. Du bist alt genug. Entweder gehst du auch nach Dublin und sorgst für dich selbst oder du bleibst hier. Dir wird schon was einfallen. Der Hof ist jedenfalls verkauft. Der neue Besitzer zieht morgen mit seiner Familie ein. Bis dahin musst du weg sein.“ Ihre Mutter zuckte gleichgültig mit den Schultern, packte den letzten Koffer auf den Wagen, stieg auf und ohne ein Abschiedswort gab sie dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt.

Das war das Letzte, was Eliza von ihrer Mutter gesehen oder gehört hatte. So war sie also ganz allein. Sie verbrachte die Nacht in ihrem Elternhaus, das ihr ab morgen nicht mehr gehörte und ging am nächsten Morgen zum Herrenhaus. Ihre alte Lehrerin hatte Mr. Robins schon darauf vorbereitet, dass Eliza vielleicht die Stelle in der Bibliothek antreten wolle und der Mann war daher über ihr Erscheinen nicht erstaunt. Er war angetan von der Ernsthaftigkeit des 16jährigen Mädchens und nachdem er sich lange mit ihr unterhalten hatte, gab er ihr die Stelle.

Von nun an begann sich alles für Eliza zu ändern. Sie bekam ein eigenes kleines Zimmer im Herrenhaus, die Arbeit machte ihr Spaß und füllte sie aus und die anderen Angestellten im Haus ließe sie in Ruhe. Gleich nach ihrer Ankunft versuchte die Köchin sich mit Eliza anzufreunden, wurde aber von ihr brüsk abgewiesen. Eliza wollte keinen Kontakt zu den anderen, ihre Welt waren die Bücher. Und so arbeitete sie sich durch die Tausenden von Büchern und alten Schriften durch, sortierte sie, besserte sie aus, falls nötig und stellte sie in der richtigen Reihenfolge in die Regale. Bei dieser doch etwas eintönigen Arbeit blieb es allerdings nicht aus, dass Elizas Gedanken manchmal abschweiften. Oft musste sie an Lennon und an den Kuss im Wald denken. Immer wieder beschwor sie das Gefühl herauf, dass seine Lippen auf ihren hervorgerufen hatten. Wenn sie wieder mal an ihn dachte, mit der Hand an der goldenen Sternenkette, ging ein Lächeln über ihr Gesicht. Irgendwann kam ihr dann die Idee, die Begegnungen mit Lennon und seine Geschichten aufzuschreiben und sie füllte Seite um Seite des Schreibblocks.

So traf sie auch Mr. Robins an, als er mal wieder auf dem Weg in seine Bibliothek war. Eliza saß am Schreibtisch, ein Lächeln im Gesicht und schrieb. Wunderschön sah sie aus und der alte Mann konnte sich gar nicht satt sehen an dem Mädchen. Schon lange hatte er sie heimlich beobachtet. Immer wieder war er in der Bibliothek erschienen, hatte sich ein Buch genommen und in einen Sessel gesetzt. Eliza fühlte sich durch ihn nicht gestört. Sie dachte, er würde lesen, dabei konnte er den Blick nicht von dem Mädchen wenden. Er machte sich so seine Gedanken, wie es mit Eliza weitergehen sollte. Die Katalogisierung würde zwar noch geraume Zeit in Anspruch nehmen, aber was war dann? Mrs Shuman hatte ihm von Elizas Schicksal erzählt, dass sie eine kaltherzige, selbstsüchtige Mutter und einen Trunkenbold als Vater gehabt hatte und Mr. Robins hatte Mitleid mit dem Mädchen. Seine Frau war vor zehn Jahren gestorben, Kinder hatten sie keine und er konnte sich nicht vorstellen, noch welche zu haben. Dazu war er mit seinen fast siebzig Jahren zu alt. Aber in Eliza erkannte er irgendetwas, was ihn an sich selbst erinnerte. Auch er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte sich alles allein erarbeiten müssen und hatte es letztendlich doch zu etwas gebracht. Er war Verleger und seine Bücher bescherten ihm ein gutes Leben. So war es also kein Wunder, dass er neugierig war, was Eliza da so emsig schrieb und er schaute ihr dabei gern zu.

Immer wenn sie schrieb, veränderte sie sich. Ihr Gesicht strahlte von innen heraus, ihre Augen leuchteten und sie wirkte viel lebhafter. So, als wäre sie ein ganz anderer Mensch. Nach einiger Zeit begann er sich mit Eliza zu unterhalten. Erst ging es um ganz banale Dinge, dann wurden ihre Gespräche immer tiefer und ernster und Mr. Robins musste mit Erstaunen feststellen, dass Eliza einen glasklaren Verstand und eine eigene Meinung hatte. Beide genossen ihre Zwiegespräche, die oft bis in die tiefe Nacht gingen, sehr. Dann, nach fünf Jahren machte Mr. Robins Eliza einen Vorschlag.

Und wieder stand Eliza auf der kleinen Lichtung im Wald und legte ihre Hände an den Schicksalsstein. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und musste unbedingt mit Lennon reden. Eliza schloss die Augen und stellte sich Lennon vor wie er sie mit seinen dunklen Augen ansah. Fast schon konnte sie seine Lippen auf ihren fühlen und sie lächelte. Ihre andere Hand umfasste die Sternenkette ganz fest.

„Hallo Eliza. Schön, dich mal wieder zu sehen“, klang da die unverkennbar spöttische Stimme. Eliza schlug die Augen auf und sah vor sich Lennon, der lässig an dem Stein lehnte.
„Selbst hallo“, flüsterte sie. Völlig fasziniert starrte sie Lennon an. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an ihm. Ihr schien, er war noch gut aussehender geworden. Jetzt lächelte er ebenfalls.

„Lennon, ich muss dir unbedingt was erzählen! Ach, es ist so aufregend!“ Elizas Stimme überschlug sich fast.
„Na, dann leg mal los. Ich bin ganz Ohr“, lachte Lennon und ließ sich erwartungsvoll auf die Erde sinken. Sollte Eliza jetzt endlich bereit sein, ihm zu folgen? Hatte sie jetzt endlich entdeckt, dass sie ihn liebte? Mit strahlenden erwartungsvollen Augen sah er zu ihr auf.

„Ich werde heiraten! Lennon, kannst du dir das vorstellen? Heiraten! Ich, Eliza, werde heiraten!“ lachend drehte sich Eliza im Kreis. Sie konnte es ja selbst noch kaum fassen. Endlich wusste sie, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Voller Glück drehte sie sich wieder zu Lennon. Zu gern wollte sie ihre Freude mit ihm teilen. Aber seine Reaktion war völlig anders als Eliza erwartet hatte.

Lennon war bei Elizas Worten zusammengezuckt. Wutentbrannt sprang er auf und voller Zorn funkelte er Eliza an.
„Was hast du gesagt? Bist du völlig verrückt geworden?“ zischte er ihr entgegen.
„Lennon? Was hast du?“ erschrocken wich Eliza einen Schritt vor dem zornigen jungen Mann zurück. So hatte sie Lennon noch nie gesehen. Seine Augen waren noch dunkler geworden und er ballte seine Fäuste.

„Wer ist es? Liebst du ihn?“ wollte er nun von ihr wissen.
Eliza lachte leise auf. Jetzt wusste sie, warum Lennon so reagierte. Er war eifersüchtig. Aber dazu hatte er ja keinen Grund. Diesmal war sie es, die ihm eine Geschichte erzählen musste.

„Nein, natürlich liebe ich ihn nicht. Ist doch auch nicht wichtig. Aber ich mag und schätze ihn sehr. Du weißt doch, dass ich im Herrenhaus arbeite. Heute Morgen hat Mr. Robins mich gefragt, ob ich ihn heiraten will. Er hat keine Verwandten und ich soll seinen Verlag und alles erben. Ist doch toll, oder?“
„Was ist daran toll? Du wirfst dein Leben weg an den alten Mann!? Warum, Eliza, warum?“ Lennon wurde immer wütender und packte Eliza fast schon grob an den Schultern.
„Hör auf! Lass mich los!“ Eliza versuchte, sich aus Lennons Griff zu winden, aber er drückte nur noch fester zu.
„Ich werfe mich nicht weg! Ich finde Mr. Robins Vorschlag gut. Er gibt mir alles, was ich mir wünsche! Ich kann mich den ganzen Tag mit Büchern beschäftigen und finanziell wird es mir auch immer sehr gut gehen!“ Eliza traten Tränen in die Augen, so weh tat ihr Lennos Griff.
„Sicherheit? Das ist dir wichtig?“ Lennon schüttelte Eliza. Wie konnte sie nur so dumm sein. Wusste sie wirklich nicht, wie sehr er sie liebte?

„Lennon, ich brauche diese Sicherheit. Ich will nicht so enden, wie meine Mutter“, schluchzte Eliza. „Schau dir doch an, was aus ihr geworden ist! Sie ist meinem Vater hierher gefolgt und was hatte sie davon? Was konnte er ihr denn schon bieten? Nur harte Arbeit und wenn er mal Geld in der Tasche hatte, hat er es versoffen! Ich will so nicht leben! Ich kann es einfach nicht!“
Jetzt wurde auch Eliza wütend. Warum konnte Lennon das nicht verstehen? Mit ihrer Vergangenheit war es doch verständlich, dass ihr die Sicherheit und der Wohlstand, den ihr Mr. Robins bot, wichtig war. Sie hatte angenommen, Lennon würde sich für sie freuen. Zwischen ihnen beiden würde sich doch nichts ändern. Nur, dass sie jetzt eben Mrs. Robins heißen würde.

„Das ist dir also wichtig, ja?“ Lennon schrie sie an. „Und was ist mit Liebe? Warum ist deine Mutter wohl deinem Vater gefolgt? Weil sie ihn geliebt hat, du dummes Mädchen! Einzig und allein aus Liebe! Und du erzählst mir hier was von Sicherheit und Wohlstand! Und warum glaubst du, bin ich hier?“ Zornig zog Lennon Eliza an sich und küsste sie.
Diesmal war es kein sanfter zarten Kuss wie beim letzen Mal, sondern ein Kuss, der sie all seinen Zorn und seine Wut spüren ließ. Gewaltsam zwang er ihre Lippen auseinander und küsste sie immer wilder.

Eliza war völlig hilflos in Lennons Armen gefangen und ihr stockte der Atem. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Sicher, sie hatte von seinem Kuss geträumt und zu gern hätte sie wieder seine sanften Lippen gespürt, aber diesen zornigen Lennon wollte sie nicht.

Dann plötzlich stieß Lennon sie von sich.
„Kann er dir das auch geben, dein Mr. Robins? Kann er dich auch zum Träumen bringen und dazu, dass deine Augen lachen? Wenn dir das alles nicht so wichtig ist, dann geh doch zu ihm! Na los, Eliza, stürz dich doch in dein Unglück! Du hast dich doch sowieso schon entschieden! Geh! Aber wenn du dann allein und einsam in deinem Bett liegst, dann denk an mich und daran, was ich von dir hören wollte! Ich wollte deine Liebe! Nur deine Liebe!“

Lennon schlug mit beiden Fäusten auf den Schicksalsstein und plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Blitze zuckten über die Lichtung und der Sturm tobte durch den Wald. Äste flogen wild durch die Gegend und kalter Regen traf Eliza mit voller Wucht. Entsetzt schrie sie auf und krümmte sich Schutz suchend auf der Erde zusammen. Stundenlang, wie es ihr schien, tobte das Gewitter über ihr. Es war stockfinster und ihr war kalt, so entsetzlich kalt. Dann endlich, so schnell wie es begonnen hatte, war es wieder hell und still, als ob nichts geschehen war. Ängstlich schaute Eliza auf und suchte Lennon, aber der war nicht mehr da. Dort, wo er sie eben noch geküsst hatte, stand der nun in zwei Hälften geteilte Schicksalsstein. Lennon hatte ihn mit seinen Fäusten zerstört. Und auf der einen Steinhälfte lag ihre Sternenkette. Vorsichtig trat Eliza näher und nahm die Kette an sich. Aber dort, wo vorhin noch der Stern golden und hell gestrahlt hatte, war jetzt ein schwarzer Stein. Eliza band sich die Kette wieder um und lief so schnell sie konnte, zum Herrenhaus zurück.

Es ist dunkel im Zimmer. So verdammt dunkel. Kein Lichtstrahl durchdringt die fest geschlossenen Vorhänge. Nichts stört die Ruhe. Noch nicht einmal das Ticken der Uhr ist zu hören.
Eliza liegt still und starrt auf das Fenster. Oder zumindest dorthin, wo sie das Fenster vermutet. Ihre Gedanken drehen sich wie wild im Kreis. Es ist die Silvesternacht und Eliza weiß, dass sie das Neue Jahr nicht mehr erleben wird. 95 ist sie jetzt und diese Nacht wird die letzte auf Erden für sie sein. Wenn doch nur diese verdammte Finsternis nicht wäre!

„Die Vorhänge auf, bitte“ flüstert Eliza mit gebrochener Stimme.
„Ja, natürlich, Mrs. Robins. Ich mache sie gleich auf. Ganz ruhig“. Beruhigend streicht die Pflegerin der alten Frau über die Hand.
„Ich lasse Sie mal einen Augenblick allein. Mal sehen, wie weit sie in der Küche sind. Bin gleich wieder da.“ Die Pflegerin zieht die dunklen schweren Vorhänge ein Stück zur Seite und geht dann leise aus dem Zimmer. Aus langer Berufserfahrung weiß sie, dass es nicht mehr lange dauern wird mit ihrer Patientin. Sie wird sich beeilen und schnell wieder zurückkommen. Niemand sollte in seiner letzten Stunde allein sein.

Eliza schaut zum Fenster in die dunkle Nacht. Ihre Gedanken gehen zurück zu der letzten Begegnung mit Lennon vor so vielen Jahren und wieder meint sie, seine harten Worte zu hören. So viel Zeit ist seitdem vergangen und so viel ist geschehen. Ja, sie hat Mr. Robins geheiratet und es keinen Tag bereut. Er war gut zu ihr und zum ersten Mal im Leben fühlte sich Eliza verstanden und ernst genommen. Sie bewunderte ihren Mann für alles, was er war und geschaffen hatte. Und sie war sich sicher, dass ihr Mann sie ebenso schätzte. Als er vier Jahre nach der Hochzeit starb, war Eliza todtraurig und vermisste ihn sehr. Er war alles für sie gewesen: guter Freund, Vertrauter und Beschützer. Nur eins nicht: ihr Liebhaber. Über Liebe hatten sie nie gesprochen; es war nicht wichtig zwischen ihnen gewesen. Zu spät erst hatte Eliza erkannt, was Liebe eigentlich bedeutet. Und dass Liebe das Wichtigste ist, was man nur haben kann. Sie hatte ihr Leben gelebt, so wie sie es wollte, hatte Bücher und Geschichten geschrieben, wurde von ihren Mitmenschen, ihren Angestellten und Mitarbeitern im Verlag und in dem großen Herrenhaus gemocht und respektiert. Und immer war das für Eliza genug gewesen. Aber jetzt, in der Stunde ihres Todes, wusste sie, was sie wirklich wollte und was sie ihr ganzes Leben vermisst hatte.

Wieder suchen ihre Augen den dunklen Himmel ab. Da, endlich, sieht sie ein schwaches Leuchten. Fast kaum erkennbar ist der einzelne klare Stern, der da in der finsteren Nacht am Himmel steht. Eliza lächelt und ihre Augen leuchten.
„Ich möchte mit dir gehen. Ich liebe dich!“ flüstert sie sanft.
Plötzlich beginnt der eben noch schwach flackernde Stern zu strahlen. Immer heller wird sein Leuchten. Bald erfüllt sein goldener Schein das Zimmer und fällt direkt auf Elizas Bett. Nur einmal im Leben hat sie diese Worte ausgesprochen und fast wäre es zu spät gewesen.

Als die Pflegerin kurz darauf wieder das Zimmer betritt, findet sie Eliza tot im Bett. Ihre Augen sind geschlossen, auf ihren Lippen liegt ein seliges Lächeln und in den Händen hält sie die Kette mit dem jetzt wieder goldenen Stern. Die Pflegerin seufzt und schließt die Vorhänge. Sie sieht den hell strahlenden Stern am Himmel, der so leuchtet, als wäre er gerade neu erschaffen, nicht.


© Aislinn


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Einmal im Leben"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Einmal im Leben"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.