„Mein Kind, ich liebe dich!“, flüstert eine Stimme leise mir zu und ich schließe meine Augen. Getaucht im Lichte der Kerzen versenke ich mich in der Stille der Kirche in die mich umfangende Gegenwart.
Ein Sturm zieht auf. Wie aus dem Nichts bläst er mir entgegen und bringt mich ins Wanken.
„Halt dich fest!“
Im Flackern der Lichter erscheint mein geliebter Engel und schließt mich in seine Arme. Wie gut er mir tut! Wie sicher ich mich bei ihm fühle. Ich verliere mich in seinen Augen, seiner reinen und kostbaren Seele, und weiß doch um die Vergänglichkeit unserer Beziehung.
„Mein Kind, wo bleibst du?“
Die Türen der Ikonostase öffnen sich. Anmutig schreitet ein Priester aus dieser hervor und streckt seine Hand nach mir aus.
„Komm!“
Nicht die Stimme des Priesters ist es, die mich ruft. Es ist die Stimme dessen, dem in Treue er dient.
Fest umschlungen drückt mein Engel mich an sich. Mit aller Kraft stoße ich ihn von mir weg.
Heftiger wird der Sturm und entfacht ein Flammenmeer.
Nicht verstehen kann mein Engel meine Tat und versucht, wieder zu mir zu gelangen. Blut tritt aus seiner Seite, seinem wunden Herzen, und er leidet. Trotzdem kämpft er weiter um mich.
Ich wende mich von ihm ab; nehme seine Mühe um mich nicht weiter an. Entschieden habe ich mich für einen anderen. Entschieden mich gegen ihn.
„Warte“, höre ich ihn rufen, doch will ich ihn ignorieren, „bitte!“
„Verschwinde!“
Scharf wie ein Schwert ist mein hartes Wort und durchbohrt sein Inneres. Ich fühle seinen Schmerz und weigere mich doch, zu ihm zurückzukehren.
„Aber ich liebe dich!“
In der sengenden Hitze des Feuers zerspringt mein eisiges Herz und ich falle zu Boden. Ich liebe meinen Engel doch auch und wie sehr ich ihn liebe! Für immer festhalten möchte ich ihn, als er sich neben mich kniet und sich über mich beugt.
„Bleib bei mir!“, flehe ich ihn an und lege meine Hand auf seine Wange. Kaum noch spüren kann ich ihn. Zu spät ist es, um unsere Liebe zu retten.
„Ich liebe dich“, lächelt er mir zu und seine Tränen tropfen auf mein Gesicht. Kühlung verschaffen sie mir, Linderung gegen den Schmerz.
„Mein Kind, ich liebe dich!“, flüstert die Stimme mir neuerlich zu und ich ziehe meinen Engel an mich. Mein Herz klammert sich an ihn, will ihn nicht mehr gehen lassen. Keine Wahl lässt ihm das Feuer. Immer näher rücken die Flammen und nehmen mir meinen Engel hinweg. Liebevoll ist sein Blick, als er mir entschwindet. Nicht glauben kann ich, was ich getan habe.


© Anita Zöhrer


3 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher


Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Mein Engel"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Mein Engel"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.