„Hey, was wird das??”, kämpfte eine tiefe Stimme gegen das Dröhnen der Musik an.
„Autsch!”, vernahm ich von der anderen Seite einen Schrei wie ein Flüstern. Ruckartig riss ich die Augen weit auf und zog schnell die Arme an meinen Körper. „Entschuldigung!”, versuchte ich laut genug zu schreien und doch kam nur ein Piepsen zustande. Es war bereits zu spät. Bernard baute sich vor mir auf. Zwei große Pranken, die seine Hände waren, packten mich am Kragen und zogen mich ein Stück hoch. „Sieh an, wen wir da haben! Zuviel ‚Titanic‘ geschaut, oder was?? Was glaubst du, wer du bist?“
Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, daher konnte ich ihn klar und deutlich hören.

Hätte meine Angst vor ihm nicht mein Gehirn blockiert, wäre ich wahrscheinlich ohnmächtig geworden. Meine Knie zeigten gestaltenwandlerische Fähigkeiten und wurden zu Gummi. Seine grobe und massive Gestalt hatte definitiv die Wirkung auf mich, die Bernard hervorrufen wollte und ich musste aufpassen, mich vor lauter Respekt nicht einzunässen. Mein Herzschlag schien den Bass zu übertönen und ich zitterte so stark, dass ich befürchtete jeden Moment aus seinem Griff zu springen.

„Bernard! Lass ihn los!!“
„Oh mein Gott! Bernard!“
Charlotte und die dunkelhaarige vornehme Frau, die in Bernards Begleitung gekommen war, kamen mir zur Hilfe.
„Bernard, beruhig dich!“, Charlotte griff Bernard unter den Arm, um ihn von mir wegzuziehen.
Eigenartiger Weise blickte dieser zu seiner Gefolgschaft und schien sich etwas zu beruhigen. Zumindest ließ er mich los und richtete sich auf. Er nickte ihr kurz zu und rief: „Komm, Seline.“
Er sah mich noch ein letztes Mal an: „wir gehen!“, las ich von seinen Lippen ab.
Die beiden schritten durch die Menge von dannen und lediglich der intensive, prägende Eindruck, den der klotzige junge Mann hinterließ, blieb bis zum Schluss und bei mir persönlich bis zum Rest meines Lebens.

„Antoine, was sollte das?“, sagte Charlotte, nachdem unsere Nachbarn verschwunden waren und der Nachgeschmack des unangenehmen Momentes nachließ.
„Ehhh….“, ich wusste nicht so recht, was ich hätte sagen sollen, denn die Wahrheit, dass die Musik meine Seele geöffnet hatte, schien mir ziemlich peinlich. „Es tut mir leid…. Sehr!“ Mein Kopf sank automatisch und ich blickte zu Boden. Ein Schuldgefühl stieg in mir auf, dass ich den Abend für alle Betroffenen verdorben hatte, immerhin gingen Bernard und seine Freundin Seline sogar fort und dies war allein mein Verdienst. Doch für Charlotte schien an dieser Stelle alles geklärt zu sein. Ihre Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem Geschehen auf der Bühne.

Als wir am Ende des Konzertes zusammen mit einem dickflüssigen Menschenstrom die Halle verließen, mimte mein Herz immer noch die Takte der Lieder, allerdings wild durcheinander. Mein Körper pulsierte weiterhin vom Bass und die verschiedensten Emotionen entfalteten sich in voller Pracht in meinem Kopf. Ich spürte eine nie gekannte Euphorie und das Orchester meines Inneren drohte, mich wie eine Bombe in Stücke zu reißen. Einige besonders prägende Zeilen der Liedtexte wiederholten sich in meinem Gedächtnis wie auf Dauerschleife.

„Ist es immer so…. so…“, ich begann meinen Satz, ohne zu wissen, wie er enden sollte. Es war für mich schier unmöglich zu beschreiben, was in mir vorging.
„..voll?“, fragte mich Charlotte, bevor sie mich an die Hand nahm und uns gekonnt aus der Menschenmasse schlängelte. Durch ihren Einsatz kamen wir deutlich schneller voran und erreichten bald den Ausgang. Zielstrebig steuerte Charlotte die Allée du Zènith an, aus der wir heute bereits gekommen waren, und blieb abseits vom Gehweg unter einem Baum stehen. Sie drehte sich zu mir um. „Laut? Lebhaft?“

„Nein, magisch!“, ein passenderes Wort gab mein Kopf nicht her.
Charlottes Mundwinkel glitten langsam auseinander. Obwohl in ihrem Blick etwas Verständnisvolles lag, wirkte sie gleichzeitig verschmitzt und neckisch.
„Ich meinte… überwältigend.“ Etwas schüchtern blickte ich zu Boden.
„Es war sehr schön.“, sagte ich, um meinen Gefühlsausbruch abzurunden. Obgleich mich das erlebte Konzert vollkommen hinriss und meine Gefühle aufschwingen ließ wie ein Schmetterling, wollte ich Charlotte nicht mit meiner Stimmung belasten. Nachher würde sie mich noch für verrückt erklären.

„Also hat es dir gefallen!“, stellte Charlotte fest. „Das hatte ich erwartet.“
Sie grinste umso breiter und auch ich lächelte ihr entgegen. Es war ein magischer Abend.

Erst jetzt fiel mir auf, dass es bereits dunkel war und der Himmel eine Decke von Sternen über uns ausbreitete. Zwischen den Baumkronen sind sie mir zunächst einmal gar nicht aufgefallen.

Ohne den Blick vom Firmament zu nehmen, schob ich den Ärmel meiner Lederjacke hoch und hielt mein Handgelenk über meinen Kopf, um auf die Uhr zu blicken. Ich zuckte kurz zusammen, als diese mir verriet, dass es bereits nach Mitternacht war. „Oh Schreck!“, schoss es aus mir heraus. „So spät.“, fügte ich beinah im Flüstern hinterher. Es kam sehr selten vor, dass ich lange wach blieb, aber noch nie war ich zwei Tage hintereinander zur Bettzeit noch unterwegs.

„Was ist Cinderella? Verwandelt sich deine Kutsche bald in einen Kürbis?“


© Ronia Tading


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