Jemand tappte ihm auf die Schulter. Er fuhr herum. Das wunderbarste Lächeln strahlte ihn an. Für einen Moment blieb ihm der Atem weg. Was machte sie hier? „Lang nicht mehr gesehen! Darf ich mich kurz zu euch setzen?“ Sie schwenkte ihr Glas und die Eiswürfel klirrten. „Ich bin Lena!“ Selbstsicher ließ sie sich auf dem verbleibenden Stuhl gleiten. Seine beiden Arbeitskollegen stellten sich vor. Ganz schnell verzauberte sie die beiden mit ihrem unvergleichlichen Lächeln und ihrem Charme. Er seufzte. Sie sah nicht nur einfach toll aus. Sie hatte diese spezielle Aura. Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. Ihre Finger flogen in der Luft, während sie den Männern irgendetwas erzählte. Seine Augen versuchten ihren linken Ringfinger festzunageln. Da war ein Ring dort. Aber es war nicht ihr Ehering. Das bedeutete vielleicht etwas. Vielleicht bedeutete es auch gar nichts. Bei ihr konnte man das nie so genau wissen. Es war alles Illusion! Diesen Satz hatte er sich so oft in seinen Kopf gehämmert, bis er wahr geworden war. Es war alles Illusion!
„Du bist so schweigsam die ganze Zeit“, beschwerte sie sich. „Das ist, weil du die ganze Zeit redest, Nora!“ „Nenn mich nicht so!“ „Ich will dich nicht Lena nennen. Das weißt du. Wie soll ich dich also sonst nennen?“ „Alle nennen mich Lena.“ Lena hieß eigentlich Leonora. Er hatte das erst begriffen, als Richard nach einer Weile mit ihrer Post vorbeigekommen war. Sie war nicht zuhause gewesen. Mit einem Knoten im Magen hatte er das Paket entgegen genommen. „Geht es ihr gut?“, hatte Richard gefragt. Das war alles. Jemand mit einem offenen Herzen hätte vielleicht Sorge in seine Stimme interpretieren können. Er hatte so etwas nicht für ihn. Stattdessen hatte er aus Verlegenheit auf die Briefe geschaut. „Leonora? Wieso nennt sie jeder Lena?“ „Ich habe sie so genannt.“ Von dem Moment an hatte er beschlossen, dass er sie nie wieder Lena nennen wollte. Also war es Nora für ihn, selbst wenn sie es nicht mochte. „Wie geht es Richard?“ „Ich weiß es nicht. Wir haben uns länger nicht gesehen.“ Er schluckte. Jetzt brauchte er noch ein Bier. „Habt ihr euch getrennt?“ Sie schüttelte den Kopf. Es war so ein hübscher Kopf. Er glimmerte und leuchtete. Aber das war alles Illusion. So war es bei ihr: alles Illusion. „Ich bin vor einem Monat ausgezogen. Die Wohnung, das alles war mir irgendwie zu eng.“ Langsam strich ihr Finger über den Rand ihres Glases. „Außerdem hatte er eine andere.“ Schon wieder? „In der Wohnung meine ich. Als ich bei dir war. Irgendwie war es für mich immer in Ordnung in Hotelzimmer oder bei ihr. Aber in unserer Wohnung: das ist etwas anderes. Findest du nicht?“ Er merkte wie sich die Wut in seinem Magen zusammen zog. Er hasste Richard. Er hasste ihn dafür, dass er es nicht schaffte Nora glücklich zu machen. „Dein Kollege kommt zurück.“ Das war das Ende von Thema Richard für den Moment.
Die Nachtluft belebte ihn wieder. Er blickte auf die Uhr. Eigentlich war es noch gar nicht so spät: erst kurz nach zehn. Trotzdem fühlte er sich dizzy: Betrunken vom Alkohol oder ihrer Anwesenheit? „Wo musst du hin?“, fragte er unschuldig. Wortlos deutete sie die Straße hinunter. „Das ist auch meine Richtung. Wir können ein Stück gemeinsam gehen.“ Sie lächelte. Dieses Lächeln war tödlich. Es brachte ihn zum Lügen. Es sorgte dafür, dass er alle seine Prinzipien über Bord warf, lockte alles aus ihm heraus. Sie setzten sich in Bewegung. Es hatte eine Zeit gegeben, eigentlich noch nicht so lange her, da waren sie durch die ganze Nacht geschlendert. Ihre Finger hatten sich in einander verknotet, beide hatten sich an einander geklammert. Sie hatten einander gebraucht, hatten sich geliebt. Sie hatten über eine gemeinsame Zukunft nachgedacht, hatten sich Wohnungen angeschaut. Alles war perfekt! Dann hatte sie zufällig Richard getroffen und sie war nahtlos zu ihm zurückgegangen, als hätten die Monate mit ihm nichts bedeutet, als wäre alles nur Illusion gewesen.
„Es tut mir leid, was damals passiert ist“, begann sie plötzlich. Er horchte auf. „Ich bin nicht böse auf dich. Es war meine Schuld.“ Wie hatte er sich Hoffnungen machen können, wenn er mit einer Frau zusammen war, die jemand anderem gehörte? So war es doch. „Es war nicht deine Schuld, Paul. Es war nicht richtig von mir. Ich war damals nicht ganz ich selbst. All die Gefühle in mir, ich konnte damit nicht umgehen. Es geht mir jetzt so viel besser. Ich bekomme neue Medikamente. Es geht mir besser.“ „Du schaust auch gut aus.“ „Bitte, Paul!“ Er vergrub seine Hände in seine Hosentaschen und starrte vor seine Füße, während er ging. „Es war eine chaotische Zeit“, murmelte er. Nur nicht ihr Lächeln ansehen! Er begann an seiner Lippe zu kauen. Sie hatten förmlich an einander geklebt in seiner kleinen Wohnung. Es war eine wundervolle Zeit gewesen. Es war alles nur Illusion. Mit Nora war alles nur Illusion! „Ich wollte dir das sagen. Ich wollte dir so viel sagen. Glaubst du, wir haben uns heute zufällig getroffen?“ Er blieb stehen. Eigentlich hatte er das schon irgendwo geglaubt. „Ich war bei deiner alten Wohnung. Ich habe Richard gefragt, ob er weiß, wo du jetzt arbeitest. Du warst so gründlich. Du hast sogar deine Telefonnummer geändert.“ Das traf ihn wie ein Schlag. Er hatte plötzlich dieses verrückte Bild in seinem Kopf: Nora, die allein und verzweifelt in den Straßen der Stadt herumirrt auf der Suche nach ihm. In seiner Version war sie ein zartes, zerbrechliches Wesen. Aber das war alles Illusion. Nora war gar nicht zart und zerbrechlich. Verzweifelt versuchte er die Vorstellung ab zu schütteln. Sie hob ihre Hand. Ihre Finger berührten seine Wange: ein kalter Punkt neben den anderen. Ein Schauer lief über seinen Rücken. „Ich liebe dich. Aber ich liebe auch Richard. Verstehst du das?“ Nein, er verstand das nicht. Aber ihrem Lächeln konnte man nicht nein sagen. „Willst du meine neue Wohnung sehen? Sie ist nur ein paar Meter weiter. Sie ist sehr hübsch geworden, finde ich. Willst du sie sehen?“, flehte sie. Es war so harmlos. Aber er wusste, was es wirklich bedeutete. Trotzdem nickte er. Er konnte nicht anders.
Sie drehte sich einmal in ihrem Wohn-Schlafzimmer. „Es ist ein wenig klein. Aber ich brauche nicht mehr.“ „Ja, es passt zu dir.“ „Und ich habe einen kleinen Balkon. Willst du sehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie die Glastür. Er erkannte die dunklen Silhouetten von Pflanzen. Pflanzen? Nora hatte sich nie um irgendeine Pflanze gekümmert. Sie hatte sich nie um irgendetwas gekümmert. Aber sie hatte sich ja geändert. Oder zumindest hatte sie das behauptet. Was wusste er schon? Es war doch alles nur Illusion. Sie spielte. Wie konnte man zwei Menschen gleichzeitig lieben? Zwei so unterschiedliche Menschen! Er begriff das alles nicht. Sie sah ihn mit diesem unbestimmten Blick an, mit diesen großen Augen. Und er brach endgültig. „Ich muss kurz telefonieren.“ „Um diese Uhrzeit?“ „Kannst du mir einen Tee machen?“ Sie verstand und ging. Er stellte sich auf den Balkon. Dann starrte er in die Nacht hinaus und wählte die Nummer. „Hallo, Schatz! Was ist los?“ „Sandra, ich muss mit dir Schluss machen.“ „Wie bitte?“ „Ich habe meine Ex getroffen.“ Darauf folgte sekundenlanges Schweigen. Es war wie eine Ewigkeit. Er erwartete Beschimpfungen, irgendetwas. „Habt ihr mit einander geschlafen?“, fragte sie schließlich. „Noch nicht!“ „Nein, der noble Paul würde so etwas nicht tun. Er ruft mich lieber mitten in der Nacht an, während ich auf ihn warte. Hast du sie gesucht?“ „Nein, nein! Es war totaler Zufall. Aber es war sofort wieder da … dieses Gefühl…“ „Das ist krank, so krank! Du bist krank!“ War es das? „Das ist falsch!“ Nein, es war richtig. Sie schwiegen sich wieder an, sekundenlang, eine Ewigkeit. „Es ist dein Ernst, oder?“, fragte sie schließlich mit Flüsterstimme. „Sandra, ich… ich habe nie…“ „Nein, ich will das gar nicht hören. Ich will nicht!“ Und sie legte auf. Er schaltete sein Handy aus und ließ es in seine Tasche verschwinden. Dann atmete er tief durch. War es falsch? Sein Gefühl sagte ihm, dass es richtig war. Also war es richtig! Als er sich umdrehte, stand sie in der Tür. Ihre helle Haut leuchtete im gedimmten Licht. Sie war so wunderschön, ein überirdisches Wesen. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, natürlich!“ „Kommst du rein? Der Tee ist fertig.“

"Willst du ein Eis? Ich kauf dir ein Eis!" "Es ist doch noch viel zu kalt für ein Eis", erwiderte sie halbherzig. "Ist doch egal! Komm, lass dich einladen." "Aber du musst auch eins essen." Er nahm ihre Hand und zog sie auf den kleinen Eisstand zu, der erste, der in dem Jahr geöffnet hatte. Nora mochte Eis und er liebte es ihr zuzusehen, wie sie sinnlich das Eis schleckte. Sie machte das auf eine ganz spezielle Art und Weise. Er konnte es nicht erklären. Aber wenn sie Eis schleckte, konnte er nicht anders, als auf ihre Lippen starren. Mit den Gedanken daran ließ er sie aus seinem Griff gleiten und beugte sich tief über den Eisstand. Er suchte Schokolade für sie aus und Kokos. Lächelnd kam er mit seiner Beute zurück. "Das ist zu viel! Davon werde ich nur dick. Und du hast gar keines. Du musst mir helfen." Er drückte ihr die Tüte in die Hand. Sie begann zu schlecken. "Ich wollte es für dich... Liebling." Sie schaute zu ihm auf. "Ich darf dich doch so nennen, oder?" Vor ein paar Tagen hatten sie sich im Ungewissen getrennt. Heute wusste er noch immer nicht, was er von dem allen halten sollte. Ihre Beziehung war trüb wie Schlamm. Das war sie immer schon gewesen. Aber eigentlich war es ganz in Ordnung so. Wenn man zu viel nachfragte, bekam man nur Antworten, die man gar nicht haben wollte. "Liebling? Das ist besser als dieser andere Name." Er küsste sie am Eis vorbei auf die Wange. Dann küsste er ihren Hals. Sie fuhr zusammen und kreischte leicht. "Kitzlig!" Er versuchte es noch mal. Sie wich ihm aus. Beide lachten. Sie schleckte am Eis, mit ihren sinnlichen Lippen. Irgendwie war alles ganz normal, so als hätten sie sich nicht vor einem halben Jahr getrennt. Es ging irgendwie nahtlos weiter.
"Paul? Bist du das?" Er schreckte von seinen Albernheiten hoch. Nur ein paar Meter von ihm entfernt stand sein Cousin. "So ein Zufall! Jetzt habe ich dich schon ewig nicht mehr gesehen." "Hat sich irgendwie nicht ergeben", murmelte er ausweichend. Er wollte nicht darüber sprechen, dass er in den letzten Monaten ein soziales U-Boot gewesen war. Eigentlich passte ihm überhaupt nicht, dass er seinen Cousin hier traf. "Du bist sicher Sandra! Pauls Schwester hat mir so viel von dir erzählt. Ich bin Oliver, Pauls Cousin!" Er schluckte. Jetzt war der richtige Moment um unterzutauchen. Aber Nora lächelte nur. "Genau! Er stellt mich ja kaum seiner Familie vor", beschwerte sie sich. Sie spielte mit! Nora war gut im Spielen. Er lächelte verkrampft. Er war weniger gut. "Auf Nanas Geburtstagsfeier kannst du ja alles nachholen." "Das wird nicht gehen. Ich habe doch keine Zeit." "Was soll das? Es ist Nanas Geburtstag. Sie wird achtzig. Da kannst du nicht einfach keine Zeit haben!" "Mir ist etwas Berufliches dazwischen gekommen." Oliver stieß gegen seine Schulter. Er zuckte zurück. "Paul ist so ein Langeweiler!" "Ja, wieso können wir nicht die Party aufmischen?" "Ich hab meinen Job noch nicht so lang. Ich kann mir nicht aussuchen, wann ich mir freinehmen kann." Sie griff nach seiner Hand. "Keine Sorge, wir machen das schon irgendwie." Sie zwinkerte Oliver zu. "Das will ich hoffen. Alle sind schon total neugierig auf dich: die erste richtige Freundin, die Paul hat. Lila hat schon richtig Werbung für dich gemacht." "Lila redet zu viel!" "Du hast es auch nicht nötig. Ich meine: WOW! Vielleicht sollte ich Lila fragen, ob sie noch mehr hübsche Freundinnen hat." Paul legte besitzergreifend einen Arm um Noras Schultern. Langsam begann Oliver zu nerven. Konnte er nicht einfach verschwinden? "Hör auf mit meiner Freundin zu flirten. Musst du nicht irgendwo sein?" Nora lachte perlend. "Es ist süß, wenn du eifersüchtig bist. Ich mag das. Kuss?" Meinte sie das ernst? Oder spielte sie das nur? In jeden Fall küsste sie ihn. Kurz begann sich alles zu drehen. "Ich muss leider weiter. War echt cool, dich kennen zu lernen! Komm das nächste Mal unbedingt mit." Oliver gab Nora einen Kuss auf jede Wange. Das war pure Absicht!
"Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du eine Freundin hast?" "Du bist meine Freundin!" "Oh, Paul!" Sie ergriff seine Hand und drückte sie. "Du hast wegen mir mit ihr Schluss gemacht, nicht wahr? Das Telefonat am Abend!" Er schüttelte den Kopf. Aber ihr strafender Blick durchschaute ihn. Da hatte er keine Chance. "Ja, nein! Ich meine, ich habe sie nicht geliebt. Es hatte keine Bedeutung. Es war ein Fehler." "Ein Fehler", murmelte sie. "Vielleicht war ich auch ein Fehler." "Was? Nein, niemals! Keine Sekunde lang habe ich so über dich gedacht. Ich liebe dich!" Er hatte das plötzlich Bedürfnis sie zu umarmen. Seine Finger fuhren in ihre Haare und er drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Sie fühlte sich so gut an. Das konnte kein Fehler sein. Egal auf welchen Wegen er gewandelt war, es war nicht ihr Fehler gewesen. "Ich liebe dich auch, Paul!" Er drückte sie fester. Der Fehler lag wo anders. Er lag daran, dass ihn zu lieben nun mal nicht genug war für ihn.

Sie stand in seiner Wohnung. Es war nun also doch passiert. Wochen, nachdem er jeglichen Kontakt abgebrochen hatte, hatte er davon taggeträumt. "Du hast sie also doch genommen. Ich habe mir das nicht gedacht. Alleine ist sie doch ein wenig groß und teuer." "Bei meinem neuen Job verdiene ich mehr." Wundernd blickte sie sich um sich, sog alles ein. "Mir hat sie auch am besten gefallen." Deswegen hatte er sie genommen, weil sie ihr gefallen hatte. Er konnte sich das nicht erklären. Sie war doch kein Teil mehr aus seinem Leben gewesen. Er hatte sie verstoßen. Sie war über die verbotene Brücke gegangen und er hatte sie hinter ihr gesprengt, alle Verbindungen abgebrochen, alle Spuren beseitigt. Aber trotzdem hatte er diese Wohnung genommen, wollte sie unbedingt haben, selbst wenn sie damals jenseits von seinen finanziellen Rahmen gewesen war. Er legte eine Hand auf Noras Schulter und küsste ihre Wange. Es war, als hätte er irgendwo geahnt, dass sie trotzdem einen Weg zurückfinden würde. So genau wollte er darüber gar nicht nachdenken. "Komm, das Essen ist fertig." Er führte sie in die Essküche mit den großen, hellen Fenstern. Sie hatte diese Fenster geliebt, all das Licht, was durch sie in die Wohnung gedrungen war. Jetzt hatte er davor einen Tisch aufgebaut mit Kerzen und Blumen. "Oh, Paul! Du bist so romantisch. Richard würde so etwas nie tun!" Ja, Richard würde so vieles nicht tun: er würde sie nicht lieben, wie sie es verdient hatte. Er würde sie nicht achten und respektieren, wie sie es verdient hatte. Und trotzdem... Er hasste Richard! Er hätte nicht gedacht, dass er jemals einen Menschen so hassen konnte. Gleichzeitig fürchtete er ihn. Er fürchtete ihn gerade wegen seinem Hass. Das waren die zwei Seiten der Richard-Medaille.
Sie stocherte in ihrem Gemüse herum. Das war ein klares Zeichen, dass es ihr nicht schmeckte oder das sie etwas am Herzen hatte. "Du musst das nicht aufessen. Es gibt noch Nachspeise." Sie blickte auf und lächelte ihn an. Er schmolz dahin wie Eis unter einem Heizstrahler. "Hast du das mit ihr auch gemacht, hier?" Ihr? Meinte sie Sandra? Er schüttelte den Kopf. "Sie war nie hier!" "Wieso nicht? Es ist so eine große und schöne Wohnung." Er legte sein Besteck hin. Ihm war auch der Appetit vergangen. "Weil... weil es unsere Wohnung ist." Ihr Lächeln verging schlagartig. Ihre Hände sanken in ihren Schoß und ihr Kopf senkte sich. Er kannte diese Geste. Gleich würden Tränen über ihr hübsches Gesicht fließen. Das würde er nicht ertragen. Er stand auf und schnappte ihre Teller um sie ab zu servieren. Als er wieder zum Tisch zurückkam, hatte sie sich gefangen. Keine Spuren von Tränen waren in ihrem Gesicht. Vielleicht hatte sie sich wirklich verändert. Aber die seltsame Stimmung war noch immer im Raum. "Paul, wann hast du dich in mich verliebt?" Hilflos zuckte er mit den Schultern. Ihre Frage ab zu tun, brachte nichts. Sie würde weiter bohren, tiefer und tiefer. "Ich weiß es nicht. Vielleicht vom ersten Moment an." "Aber wann ist es über dich gekommen. Wann war der Moment, an dem du es begriffen hast." "Ich... ich denke im Theater. Oder nein, als du mir das erste Mal deine Kleider gezeigt hast. Deine Augen haben so geleuchtet. Und deine Stimme war so voller ... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Begeisterung, vielleicht! Ich weiß es wirklich nicht so recht. Irgendwann dann ist es passiert." Er setzte sich wieder zu ihr, griff nach ihren zarten Händen. War das wann nicht egal jetzt? War es nicht viel wichtiger, was er im Moment fühlte? "Wieso fragst du mich das jetzt?" Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, ich müsste das klären. Willst du nicht wissen, wann ich es begriffen habe?" Er drückte ihre Hände. Er wäre nicht auf die Idee gekommen sie zu fragen. Er wollte dieses Gespräch nicht weiterführen. Aber sie wollte es. Das spürte er. Also hatte er keine Wahl. "Wann?" "Als du mir gesagt hast, dass du mich nie wiedersehen willst, wenn ich zu Richard zurückgehe." Erst dann? Er ließ sie abrupt los. Und was war mit den drei Monaten davor? Was war mit all den Malen, wo sie heulend in seinen Armen gewesen war? Und den Sex, den sie danach hatten? All das konnte man nicht machen, wenn man nichts für jemanden empfand. Aber da war etwas, was er noch weniger begriff: "Wieso? Wieso bist du dann gegangen?" Und was war mit all den Wochen danach? Er war in ein unbegreiflich tiefes Loch gefallen. Nein, er hatte die Brücke gesprengt und war dann in den Abgrund gesprungen. Wochenlang war er jeden Tag arbeiten gegangen und am Abend in seiner spärlich eingerichteten Wohnung gesessen und hatte nur über etwas nachgedacht: wieso? Erst als seine Schwester ihn mit Sandra verkuppelt hatte, war es irgendwie besser geworden. Er hatte Sandra nie geliebt. Er hatte sie nur benutzt, um Nora zu vergessen. Und irgendwo hatte sie das auch gewusst. Damit war es für ihn in Ordnung. "Ich konnte nicht bei dir bleiben, Paul. Ich musste zuerst heilen. Ich musste heilen. Ich kann nur als ganzer Mensch mit dir zusammen sein. Verstehst du das?" Nein. Vielleicht, ein bisschen! "Ich konnte dir das nicht sagen. Ich habe es erst allmählich begriffen." Er brauchte frische Luft. Er wollte das alles nicht hören. Er öffnete das Fenster. "Willst du die Nachspeise?" Sie stand jetzt auch auf. Ihre Hand griff nach seiner. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er konnte sich nie gegen sie wehren. "Ach, Paul! Nie willst du über irgendetwas reden. Aber diesmal läufst du mir nicht davon. Du musst mich bis zum Ende anhören." Er reagierte nicht darauf. Sie beschloss wohl, dass das jetzt ihr Fenster war. "Paul, ich möchte, dass das mit uns funktioniert. Ich möchte dich..." "Und Richard?" "Ich weiß es nicht. Aber ich trage den Ring nicht mehr. Siehst du? Ich bemühe mich. Aber ich kann dir nichts versprechen." "Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn ich ständig Angst haben muss, dass du zurückläufst." "Ich bemühe mich. Ich will das wirklich! Aber ich werde niemals ganz von Richard loskommen. Da ist ein Band zwischen uns. Das wird erst zerreißen, wenn einer von uns stirbt." "Wenn er tot ist? Wie soll das denn gehen?" "Das ist ein Teil von mir. Du liebst mich: völlig und ganz?. Du wirst das akzeptieren. Ich weiß das." Es akzeptieren? Er dachte an all die Woche ohne ihr. Er hatte wirklich irgendwo gedacht, er wäre über sie hinweg. Er hatte sich damit abgefunden. Aber er hatte sie nur einen Moment lang sehen müssen und alles war wieder wie vorher. Nahtlos! Er war bereits in diesem ersten Moment gebrochen. Ging es Nora da ähnlich? Er wollte das nicht glauben. Sie küsste ihn. "Komm, es gibt etwas Besseres als Dessert."
Er griff noch einmal nach ihrer Hand. "Wieso kannst du nicht bleiben?" Er küsste ihre Finger, machte eine Spur hinauf zu ihrem Arm. Sie kicherte. "Paul, ich muss morgen früh raus. Wir haben einen wichtigen Kunden." Wie konnte sie all diese Sachen mit ihm machen und danach einfach nach Hause gehen? Er wollte sie die ganze Nacht. "Du bist so wunderschön!" Sanft entzog sie sich ihm. "Bitte, Paul! Wir sehen uns morgen. Auf unserer Bank? Da ist nur diese Sache, die ich morgen erledigen muss." "Ich habe dich doch so vermisst." "Ich dich auch! Aber ich muss jetzt gehen." Er klammerte sich an ihre Hand. Er dachte nicht mehr klar. Er war betrunken mit ihrer Liebe. "Wir sehen uns morgen, versprochen! Zieh dir etwas an, bevor du dich erkältest." Sie entzog sich ihm endgültig. Dann schlüpfte sie aus der Wohnung. Enttäuschung machte sich in ihm breit, weil er sie nicht mehr sehen, nicht mehr spüren konnte. Er schlurfte zurück ins Schlafzimmer. Woher kam nur das ganze Chaos? Er zog ein T-shirt hervor und schlüpfte hinein. Eigentlich musste er am nächsten Tag auch früh aufstehen. Irgendwie war das alles nicht so passiert, wie er sich das vorgestellt hatte. Aber war das nicht immer so mit Nora gewesen? Sie war der Chaosfaktor in seinem Leben und er liebte es. Es war Zeit Zähne zu putzen und nicht über all das nachzudenken. Er stolperte zwei Mal auf dem Weg ins Badezimmer. Nora hatte nicht mehr all ihre Sachen angezogen. Vorhin war ihm gar nicht aufgefallen, dass sie gar keinen BH angehabt hatte. Er griff nach seiner Zahnbürste. Als er das Wasser einschaltete, fiel sein Blick auf den kleinen Ring, der daneben lag. Er hob ihn hoch, blickte durch ihn hindurch. Sie trug den Ring doch gar nicht mehr. Er starrte auf das kleine unschuldige Ding in seiner Hand. Trotzdem hatte das alles so viel Bedeutung. Jedes kleine Etwas, jedes irgendwas hatte so viel Bedeutung. Er sank nieder auf den Badewannenrand. Finger für Finger ballte sich seine Hand um den Ring. Kurz entschlossen öffnete er den Klodeckel und ließ ihn hinein fallen. Dann drückte er die Spülung, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Lustlos starrte er in den Kühlschrank. Er hatte eingekauft, aber nichts sprang ihn an. Kochen stand absolut außer Frage. Sie hatte ihn sitzen lassen, schon wieder. Sie war einfach nicht im Park aufgetaucht, bei ihrer Bank. Er fuhr sich in die Haare. Eigentlich hatte er keinen Hunger. Also schlug er die Kühlschranktür zu. Stattdessen holte er ein Bier aus dem Getränkefach. Es zischte, als er den Drehverschluss öffnete. Er wartete auf die Kohlensäure, darauf, dass sie ihm über die Finger rinnen würde. An einem Tag wie diesen war das doch normal, oder? Er hatte sicher zwei Stunden auf sie gewartet, hatte sie etliche Male angerufen. Aber ihr Handy war ausgeschalten. Sie wollte nicht gestört werden, nicht von jemandem wie ihn. Wieso war das nur immer so mit ihr? War sie zu Richard gegangen? Er bekam ihn nicht aus dem Kopf. Er schüttelte sich. Es war vorbei. Es war alles nur Illusion. Nora war eine Illusion, ein Wesen aus einer anderen Welt, nicht geschaffen für ihn. Egal, was sie ihm noch am Vortag beteuert hatte, es war alles nur Illusion. Das hatte er doch von Anfang an gewusst.
Er ließ sich auf seine Couch fallen. Er starrte an die Decke. Seine Wohnung war viel zu groß für ihn, für ihn allein. Er leerte die halbe Flasche. Die Kohlensäure stieg ihn prickelnd in die Nase. Nora! Leonora! Wenn sie eine Illusion war, wieso war die Erinnerung an ihren Körper dann so real? Gestern waren sie hier zusammen gelegen. Hier, der Spinnweben, den er gefunden hatte. Er war noch immer hier. Gestern war noch nicht so lange her. Er musste an etwas anderes denken. Er musste weg von ihr. Seine Hand tastete nach der Fernbedingung. Er schaltete den Fernseher ein und begann durch die Kanäle zu zappen. Einen hirnlosen Film, genau das brauchte er jetzt. Aber es war noch nicht so spät. Das Hauptabendprogramm hatte noch nicht begonnen. Er landete bei irgendeiner Nachrichtensendung. Sie berichteten über Krieg in fernen Ländern. In Wahrheit war es immer dasselbe. Er starrte auf den Bildschirm ohne irgendwelche Details mit zu bekommen. Vielleicht sollte er Nora noch einmal anrufen. Vielleicht war ihr etwas passiert. Oder sie hatte zurückgerufen und er hatte es noch gar nicht bemerkt. Er kontrollierte: nichts! Er war bei ihr zuhause gewesen. Aber dort war niemand. Er hatte gewartet, bis es dämmrig wurde und das Licht angegangen war. Aber ihre Fenster waren alle dunkel geblieben. Sie spielte tot. Hatte sie das nicht schon einmal gemacht? Er war nach einem Bewerbungsgespräch nach Hause gekommen. Er hatte dreimal versucht sie zu erreichen, um ihr zu erzählen, wie gut es gegangen war. Aber sie hatte nicht abgehoben. In seiner Wohnung war alles dunkel gewesen. Er hatte alle Räume durchsucht. Die Wohnung damals war ja nicht so groß gewesen. Da lag sie in der Badewanne. Ihr Blick war völlig teilnahmslos. Das Wasser war eiskalt und ihre Finger völlig schrumpelig. Sie musste eine Ewigkeit in der Wanne gelegen haben. Plötzlich hatte sie die Augen aufgeschlagen. Mit ihrer weißen Haut, den blauen Lippen und den großen Augen hatte sie für einen Moment wie ein fremdes Wesen gewirkt, ein Alien. Dann hatte sie begonnen zu zittern und seinen Namen zu jammern. So schnell war sie wieder ein Mensch geworden.
Das Schrillen der Türglocke ließ ihn hochfahren. Er brauchte einen Moment um sich zu orientieren. War sie es? Mit schnellen Schritten war er bei der Tür. Seine Finger öffneten das Fischauge. Draußen standen zwei Menschen, keine Nora. Trotzdem öffnete er die Tür. „Paul Sihor?“ Er blinzelte, nickte. „Wir sind von der Polizei!“ Er sah die Ausweise ohne sie zu sehen, nickte wieder. „Dürfen wir reinkommen?“ Er nickte. Dann begriff er, dass er noch immer in der Tür stand und stolperte zurück. Alle möglichen Bilder gingen durch seinen Kopf. Aber er endete wieder bei Nora in der Badewanne. Sein Magen war plötzlich nur noch ein harter Klumpen in seinem Bauch. „Ist… ist etwas passiert?“ Er hätte das nicht fragen sollen. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“, fügte er daher hinzu, bevor noch irgendwer etwas antworten konnte. Beide schüttelten den Kopf. Ihre Blicke glitten durch sein Vorzimmer, über seinen Kleiderständer, über alles. „Sie kennen Richard Mainar?“ „Natürlich. Ich habe für ihn gearbeitet.“ Richard? Richard! Er steckte die Hände in seine Hosentasche, damit niemand sah, wie sehr sie zitterten. „Er wurde heute Nachmittag erschossen aufgefunden.“ Er blinzelte, starrte, dachte an die Badewanne. Nora? „Nora? Leonora, seine Frau? Was ist mit ihr?“ Der eine Beamte fixierte ihn jetzt. Der andere begann zu wandern. „Sie ist derzeit nicht erreichbar. Kennen Sie Leonora Mainar gut?“ Er schluckte. „Ich glaube, ich möchte jetzt doch einen Kaffee!“


© lerche


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Paradiesvogel- Teil 2: Kollision"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Paradiesvogel- Teil 2: Kollision"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.