„… sollten uns schnell anstellen, bevor es zu voll wird.“, vernahm ich Charlotte Stimme und meine kleine Gedankenreise verflüchtigte sich. Sie zog mich zielsicher in die Richtung, wo die Schlange anfing und tatsächlich, nur kurz nachdem wir uns angestellt haben, begann diese zu wachsen.

Mühsam kamen wir dem Eingang näher und in meinen Füßen und Beinen breitete sich ein leicht unangenehm werdendes Ziehen aus. Um uns herum blühten lebhafte Gespräche auf. Hier und da lachte jemand laut oder wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Hin und wieder wurden Handys rausgeholt und bald darauf wieder zurückgepackt, manchmal wurde flink eine Nachricht eingetippt. Auch Charlotte war wieder in den Bildschirm ihres - wie sie es zu bezeichnen mochte – iPhone’s vertieft.

Je weiter die Sonne sich hinter den Horizont zurückzog und eine leicht kühle Brise durch die Menschenmenge flog, desto enger stand man bei einander. Reißverschlüsse wurden hochgezogen und die männlichen Begleiter nahmen die Mädchen in den Arm. Erst jetzt merke ich, wie dünn die Jacke war, die Pierre mir geliehen hatte. Doch Charlotte schien die Kälte nichts anhaben zu können. Sie stand einfach nur da, rauchte eine und kaute auf ihrer Unterlippe.
„Man, dauert das lange.“, es war das erste was sie seit gefühlt einer Stunde sagte. „Aber du wirst sehen, das Warten lohnt sich.“
Ihre Augen funkelten vor Aufregung und ich war bereit, was auch immer man da drin aufführen würde zu lieben.

Endlich hatten wir den Eingang zum roten Gebäude erreicht und Charlotte holte die Karten raus, die ihr ihr Freund mit dem gebrochenen Herzen geschenkt hatte. Binnen Sekunden, in denen die Karten mehrere Hände wechselten, konnte ich die Worte „the“ und etwas, was wie „script“ aussah, lesen. Ich wusste werde, ob es der Name eines Stückes war, oder einer Gruppe, oder vielleicht einer Band.

Wir gingen hinein und ich orientierte mich an Charlotte, die sich scheinbar gut auskannte. Schon bald erreichten wir einen sehr großen Saal. Obwohl wir erst gerade in die Halle eintraten, war diese bereits fast voll. Die Gespräche und Unterhaltungen, die den Raum füllten, erinnerten an das Summen eines Bienenschwarms. Es war überwältigend so viele Menschen auf einem Fleck zu sehen, jedoch auch beängstigend. Ich pflegte stets solche Orte zu meiden, denn auch wenn ich immer unsichtbar blieb, konnte ich mich nie vollständig entspannen und mich meiner Gedanken hingeben. Doch neben Charlotte wollte ich das auch nicht.
Zielsicher navigierte sie uns zwischen Gruppen von jungen Leuten, die ihre Plätze bereits gefunden hatten und nun die Zeit totschlugen. Ich folgte ihr stumm.

Auf der rechten Seite, nur wenige Meter vor der Bühne, fand Charlotte den ‚perfekten Platz‘, wie sie es sagte. Selbstbewusst hatte sie sich durch die Mengen gedrängt und sich dort hingestellt, wo ihr die Sicht auf die Bühne am meisten zusagte. Im Kontrast dazu trottete ich etwas unsicher hinter ihr her, immerhin wollte ich niemandem den gewünschten Platz wegnehmen oder mich gar vordrängeln.
„Woohou! Und dann auch noch so nah an der Bühne!“, jubelte sie vor Freude und hüpfte leicht auf und ab. „Na los!“, fügte sie hinzu und deutete neben sich, "komm her!"
Umständlich versuchte ich mich neben sie zu quetschen. Das eigentliche Problem bestand dabei darin sich so hinzustellen, dass möglichst wenig Körperkontakt zu Charlotte und dem jungen Mann zu meiner Rechten bestand, was sich bei seinem überaus ausgeprägt muskulösen Körperbau als sehr schwierig erwies.
Kaum dass ich mich neben ihn gestellt hatte, schielte er zu mir rüber, wie auf einen mickrigen Käfer, was nicht gerade zu meiner Entspannung beitrug. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, so als könnten er und ich niemals Freunde werden.

„Bernard? Bernard, bis du’s??“, vernahm ich Charlottes überaus gut gelaunte Stimme.
Sofort wurden die grimmigen Gesichtszüge des Muskelprotzes weich, als er den Blick von mir zu der blonden Dame wechselte. Charlotte machte Anstalt in zu umarmen.
„Charly?? Fick mich doch!!! Hätte mir ja denken können, dass du hier abhängst. Indie ist ja schließlich dein Ding“, zwinkerte er ihr vertraut zu und lehnte sich über mich drüber, um Charlotte in den Arm zu nehmen. Da hinter mir bereits eine ganze Menge junger Menschen versammelt hatte, konnte ich nicht allzu weit nach hinten ausweichen, um der Umarmung nicht im Wege zu stehen. Mir blieb eigentlich nichts anders übrig als mich mit dem Oberkörper nach hinten zu lehnen und leicht in die Hocke zu gehen. Ich kam mir vor wie ein Huhn. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl so unwichtig zu sein, dass ich in einen gasförmigen Zustand übergehen könnte.

„Wer ist denn die Weichflõte hier?", sagte Bernard, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten. Mit seinem Daumen zeigte er eindeutig auf mich. „Du hängst doch sonst nie mit solchen Statisten und Nerds ab."
Perplex blickte ich zu Charlotte und als sich unsere Blicke trafen, rutschte mir beinah ein „Meint er mich??" raus. Ich konnte es kaum fassen, dass jemand so gemein und verletzend sein konnte. Auch Charlotte verlor leicht die Fassung. Scheinbar war sie auf eine solche Aussage ihres Freundes nicht gefasst.
Sie versuchte die Situation zu überspielen, indem sie überzogen lächelte und mir die Hand auf den Arm legte.
„Bernard, das ist Antoine. Antoine, das ist Bernard, er meint es gar nicht so. Eigentlich ist er ein ganz Lieber. Das war BESTIMMT ein Scherz." Sie grinste mich noch einmal an, um sicher zu gehen, dass die Sache aus der Welt geschaffen war und blickte mehrmals von mir zu ihm und wieder zurück. Danach wendete sie sich wieder ihrem Handy zu.

„Wie du meinst, Süße!" Bernard schien ihre Meinung wohl nicht zu teilen und blickte mich noch einmal verurteilend von Kopf bis Fuß an, bevor er sich wieder seiner Begleitung zuwendete.

Ich stand da, wie eingefroren und dachte über die Worte des braunhaarigen Koloss nach, der sich hin und wieder von seiner hübschen Gefährtin abwendete, um heimtückisch zu mir rüberzuschielen. Sie flüsterten sich was zu und lachten. Ich war mir sicher, dass sie sich über mich unterhielten. War ich vielleicht tatsächlich so wie er es sagte? Und was meinte er mit Statist? Dachten das vielleicht alle von mir? Was dachte Charlotte wohl über mich?
Sie war immer noch in ihr Handy vertieft und wischte mit ihren Daumen immer wieder über den Bildschirm.

Einer Sache war ich mir sicher: dieser Bernard schien mich überhaupt nicht zu mögen und das aus einem unbestimmten Grund. Oder war seine Antipathie mir gegenüber völlig verständlich?

Noch nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich auf Menschen wirken könnte. Nicht, weil es mir egal war, sondern einfach weil ich nie was mit anderen Menschen zu tun hatte. Ich war immer allein. Der einzige, der mir Gesellschaft leistete, war ich selber und über diese Art von Gesellschaft habe ich mich noch nie beschwert. Immerhin kannte ich mich lang genug und war an mich gewöhnt. Auch meine Schmetterlinge machten stets den Eindruck, als würden sie sich bei mir wohlfühlen. Nun fragte ich mich, ob sie nicht aus Höflichkeit nur so taten. Waren Schmetterlinge zu so etwas fähig? Was, wenn sie mich auch heimlich auslachten und hinter meinem Rücken gemeine Sachen über mich sagten? Würde mir das eines Tages auffallen?

Urplötzlich hatte ich das Gefühl mich selbst aus einem völlig neuen Winkel zu sehen. Aus irgendeinem Grund dachte ich allezeit, dass ich unsichtbar wäre. Aber unsichtbar sein war meiner Meinung nach nichts Schlimmes. Es hieß nur, dass man niemandem auffiel, weder positiv, noch negativ. Doch nun wurde mir offenbart, dass alles anders war.

Ich war so vertieft in meinen philosophischen Moment, dass mir gar nicht auffiel, wie es plötzlich dunkel im Raum wurde. Charlotte hatte bereits ihr Smartphone weggepackt und richtete sich etwas auf, um über die Köpfe hinweg besser sehen zu können. Ihre Aufregung, die zuvor von Bernards Bemerkung unterbrochen wurde, war wieder zurückgekehrt. Sie schaute kurz zu mir und grinste mich sehr breit an. „Es geht los!", flüsterte sie und stupste mich leicht mit ihrem Ellbogen an. Erst jetzt bemerkte ich, wie eng wir alle an einander standen und wie voll die Halle war.

Die Scheinwerfer auf der Bühne sprangen förmlich an und im selben Moment ertönten laut die ersten Töne einer Melodie. Erst jetzt verstand ich, dass es sich um ein Musikkonzert handelte.

Weder die Musik, noch die Interpreten waren mir bekannt, aber die Lautstärke war überwältigend. Schon bald empfand ich, als passte sich mein Herzschlag dem Bass an und ich begann leicht im Takt zu zucken. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an dieses Gefühl gewöhnt hatte.
Auch wenn der Geräuschpegel nicht dem entsprach, was ich gewohnt war, gefielen mir die sich bewegenden Melodien der Lieder, welche durch angenehmen Gesang unterstütz wurden und ich fragte mich, wie dieses Genre genannt wurde.

Eine viertel Stunde in das Konzert hinein hatte das Gefühl des völlig Neuen nachgelassen und ich begann unter dem pochenden Bass die einzelnen Klänge der jeweiligen Musikinstrumente wahrzunehmen und zu lieben. Ein Gefühl keimte in mir auf, als würden mir die Töne eine gewisse Schwerelosigkeit schenken – Freiheit. Um dieses Gefühl empfangen zu können, schloss ich letztendlich die Augen und breitete meine Arme weit aus…


© Ronia Tading


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