„Was suchst du da unten?“, fragte sie und schaute mich skeptisch an. Ich konnte nur ahnen wie absurd und lächerlich ich gerade aussah, wie ich immer noch an die Theke gepresst, auf dem Boden hockte.
„Seine Eier.“, antwortete Pierre stellvertretend und schritt zurück in die Küche, um Besen und Kehrblech zu holen. Charlottes Gegenwart machte mich so nervös, dass ich ihm den Spruch nicht einmal übel nahm. Eigentlich, gestand ich mir ein, hatte er sogar recht.

Nach und nach begann sich der Raum mit Gesprächen zu füllen, sodass die Aufmerksamkeit wieder von mir weg glitt. Langsam richtete ich mich auf.
„Nun, wenn du alles hast, können wir gehen.“, sagte Charlotte und grinste. Ich war ihr dankbar, dass sie die peinliche Situation nicht nochmal ansprach.

Eilig zog ich den Nietengürtel und die Lederjacke an, da Charlotte bereits draußen auf mich wartete. Beim rausgehen versuchte ich Pierre aus dem Weg zu gehen, damit er keine Gelegenheit bekam mir noch einen Spruch anzudrehen, der mich noch nervöser machen würde.
Und somit trat ich in den kühlen Abend hinaus.

Charlotte, die an der Mauer des Cafés lehnte und auf mich wartete, trug eine Leoparden Leggins und ein schwarzes Kleid. Ihre Lederjacke und ihre schwarzen Boots nahmen ihrer äußeren Erscheinung jedoch das mädchenhaft.
Sie war nicht eine dieser shoppingsüchtigen Mädchen die mit ihren übergroßen Taschen in den Armbeugen rumliefen, in denen sie überkleine Tiere – ich glaubte mal gelesen zu haben, dass es Hunde sind – trugen und überteuerte Getränke aus billigen Pappbechern tranken. Sie quiekten sich gegenseitig mit ihren schrillen Stimmen immer etwas zu, wenn sie mir auf den großen Avenues mit den vielen Läden entgegen kamen und mich vom Gehsteig drängten.
Charlotte war einfach nur cool und auf Tiere, hatte sie mir erzählt, war sie sowieso allergisch.
Als sie mich bemerkte, lächelte sie mich an, drückte sich von der Mauer ab und setzte sich zielsicher in Bewegung. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
So schlenderten wir die Rue Lepic hinunter bis sie in den Boulevard de Clichy mündete und liefen zur nächsten Metró. Im Grunde genommen schlenderte nur Charlotte. Ich hingegen lief ihr hinterher und versuchte mich ihrem schnellen Tempo anzupassen. Außerdem wusste ich nicht wo unsere Reise hingehen würde und Charlotte machte auch keine Anstalt mich in ihre Pläne einzuweihen.

„Wohin gehen wird?“, fragte ich sie schließlich, als wir bei der Blanche Metró Station ankamen. „Wirst du schon sehen.“, sagte Charlotte geheimnisvoll.
„Du könntest es mir auch einfach sagen.“
„Keine Chance!“, grinste sie mich an und ich gab auf.

Eine halbe Stunde später stiegen wir Stalingrad aus und ich las auf einem Straßenschild, dass wir uns auf der Avenue Jean Jaurès befanden, die mir jedoch überhaupt nichts sagte.
Obwohl ich in Paris aufgewachsen bin, kannte ich bei weitem nicht alle Ecken dieser Stadt und das lag unter anderem daran, dass ich kaum mein zu Hause verließ. Gerade in diesem Moment ärgerte ich mich darüber, dass ich nicht wusste wo ich war.
Ich beschleunigte meinen Schritt, um Charlotte einzuholen und fürchtete mich davor sie aus den Augen zu verlieren. Der Gedanke, dass sie aus meinem Blickfeld verschwinden und mich verirren könnte, ließ mich leicht panisch werden. Doch bald darauf erreichten wir ein kleines Café. Es nahm gerade mal ein Drittel der gesamten Gebäudebreite ein und sah fast schon unmerklich niedlich aus. Mir wäre es vermutlich nicht aufgefallen, wenn ich die Straße entlang spaziert wäre. Aber ich kannte mich in der Gegend ja auch nicht aus.

Charlotte steuerte auf eine der Bänke des Cafés zu, die draußen im Schatten der Markise standen und setzte sich hin.
„Das war also dein großes Geheimnis? Du wolltest mir nicht sagen, dass wir in ein Café gehen?“, fragte ich leicht überrascht.
Zugegeben, war es ein äußerst gemütliches Café. Das konnte man bereits von außen durch die Glaswand erkennen.
„Na hör mal!“, rief Charlotte mit gespieltem Entsetzen, „das ist nicht irgendein Café! Das ist das Local Rock UND mein Stammcafé!“ Sie lachte auf und sah dabei sehr sympathisch aus.
„Außerdem ist das nur eine Zwischenstation.“, fügte sie diesmal ernsthaft hinzu und schaute auf die Displayuhr ihres Handys. „Wir sind früh dran und haben noch etwas Zeit totzuschlagen.“

Nicht lange nachdem ich mich gesetzt hatte, kam der Kellner. Charlotte bestellt sich „das Übliche“ und ich grübelte darüber nach, was das wohl hätte sein können. Da Charlotte so schnell bestellt hatte war ich in dem Dilemma, da ich nicht unnötig die Zeit des Kellners beanspruchen wollte. Allerdings war ich mit dem Menü des Cafés nicht vertraut und hätte erst einmal die Karte studieren müssen. Das würde Zeit kosten und ich fühlte mich überfordert, da sowohl Charlotte als auch der Kellner mir bei der Wahl zuschauen würden. Ich fühlte mich wie in einer Prüfung und fing an zu schwitzen. Mein Puls stieg an und bevor ich ohnmächtig wurde, entschied ich mich auf gut Glück auch „das Übliche“ zu nehmen.
„Ich nehme auch „das Übliche“.“, meine Stimme brach mitten im Satz ab. „Ich meine…. das was sie üblicherweise so nimmt.“, ich zeigte auf Charlotte, die das Geschehene amüsiert betrachtete und mich schelmisch angrinste.

„So so, du bist also auch „öfters hier“?“, sagte sie als der Kellner weg war. Ich wurde rot.
„Ich war noch nie hier.“, gab ich zu, „um ehrlich zu sein, kenne ich diese Gegend überhaupt nicht.“
„Wird sind am Pont de Flandre.“, erklärte Charlotte, als müsste es mir augenblicklich was sagen. „In der Nähe des Parc de la Villette.“, fügte sie hinzu, „das ist der größte Park in Paris und du warst noch nie hier??“
Ich schüttelte zögerlich den Kopf. Sie sagte es so, als hätte ich sie gefragt, ob der Mensch überhaupt innere Organe braucht.

Charlotte rollte mit den Augen. „Also gut, dann erzähl mir alles über dich!“, sie beugte sich über den Tisch und stützte sich auf ihre übereinander gefalteten Hände ab, die auf dem Tisch lagen. „Was möchtest du denn noch wissen?“, fragte ich sie. „Was machst du, wenn du nicht gerade deine Schmetterlinge züchtest?“, fragte sie.
„Also…“, ich musste überlegen. „Am Montag putze ich meine Wohnung, am Dienstag lese ich, am Mittwoch gehe ich … spazieren, am Donnerstag kaufe ich ein, Freitag und Samstag ist kreatives Arbeiten und Sonntag… „
„… gehst du in die Kirche?“, fragte Charlotte.
„Nein. Zu… meinen Eltern.“, erklärte ich.
Mein Alltag war durchgeplant. Jeder Tag trug eine Funktion.
Charlotte machte große Augen. „Wow!“, sagte sie. „Ich… weiß nicht, was ich sagen soll.“

Genau in dem Moment brachte der Kellner unsere Getränke, doch Charlotte schaute nicht auf, sie sah weiterhin mich an. „Weiß nicht. Ich stelle mir das alles anstrengend vor.“; sagte sie. „So durchgeplant und streng. Das hält doch keiner aus.“
Ich betrachtete meine Cola und dachte darüber nach.
„Du solltest lockerer werden.“, sagte Charlotte und grinste mich an.
„Lockerer?“, fragte ich sie verwundert. „Wie meinst du das?“
Ich wusste, dass ich nicht sonderlich entspannt war, wenn ich von Fremden umgeben wurde, aber eigentlich sah ich nie einen Bedarf daran etwas zu ändern.

„Zum Beispiel..“, sie beugte sich noch weiter über den Tisch und ich griff schnell nach ihrer Cola, damit sie diese nicht mit der Schulter umstoßen konnte. „… solltest du ab jetzt viel mehr mit mir unternehmen.“ Charlotte sah mir tief in die Augen, wie eine Schlange, die ihre Kaninchen-Beute hypnotisieren wollte, dann griff sie nach der Cola, die ich immer noch in der Hand hielt. Dabei umfasste sie mit ihren Fingern die meine und eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Arm und glitt scheinbar meinen gesamten Körper hinab. Mein Herz begann zu rasen und ich musste schnell nach Luft schnappen, da ich vergessen hatte zu atmen.
Oh Gott, ich war tatsächlich wie ein Kaninchen….

Ihre Mundwinkel glitten zu einem weiteren frechen Grinsen auseinander und sie zuckte kurz mit den Augenbrauen bevor sie den Strohhalm ihres Getränks an die Lippen führte.

„Dann ähm…. Erzähl du mir etwas über dich.“, stammelte ich.
Einerseits wollte ich tatsächlich alles über Charlotte wissen, gleichzeitig war ich froh, einfach nicht mehr über mich reden zu müssen.

Charlotte setze die Cola ab. „Über mich, phuuu“, sie wirkte nachdenklich und fasst schon verträumt. Es gab scheinbar so vieles über sie, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. „Also ich spiele zusammen mit ein paar Freunden in einer Band. Wir proben immer am Wochenende und hin und wieder treten wir in kleineren Clubs oder Bars auf… Ich liebe Kunst! Sehr! Ich zeichne selber, aber Kunst aller Art fasziniert mich. Mein größter Traum ist es dieses Jahr an der „Nuit Blanche“ teilzunehmen! Wenn meine Eltern mich natürlich lassen würden...“, sie rollte mit den Augen und ich konnte nicht aufhören ihr zuzuhören und sie bei ihren Erzählungen zu beobachten. Was ich erwartet hatte, war, ein wenig mehr über Charlotte zu erfahren. Doch sie schien mir die Pforte zu ihrem Herzen zu öffnen, oder zumindest ein Fenster auf Kippe zu stellen, so dass ich einen Einblick erhielt wie es in ihr aussah. Die Art und Weise wie sie von Kunst sprach war unglaublich. Sie schien sich selbst darin gefunden zu haben. „…. zum Beispiel ein Bild vom amerikanischen Pop Art Künstler Roy Lichtenstein … es heißt „Ohhh…Alright…“ aus den Sechzigern… es würde sich total toll als Tapete auf meiner Wand machen, das wäre soo cool! Ich suche aber noch nach der passenden, oder nach einem Graffiti-Künstler, der mir das an die Wand macht. Ich selber kann in so großen Dimensionen leider nicht proportional zeichnen und….“

Ich war hin und weg von Charlotte. Ich liebte die Art wie sie die Kunst liebte. Zwar hatte ich keine Ahnung von Kunst und hatte auch noch nie arbeiten von diesem Künstler Lichtenstein gesehen, aber ich nahm mir just in diesem Moment vor, dass ich mich darüber erkundigen würde.

Als der Kellner unser Essen brachte, war ich fast schon enttäuscht, da Charlotte kurz zu ihm aufblickte und ihren lebhaften Redefluss unterbrach. Doch gerade, als ich ein „Rede bitte weiter!“ ansetzen wollte, plapperte sie vergnügt drauf los und diesmal über Kampfsport. Ich schluckte schwer und verschluckte mich an meinem eigenen Speichel, da der Gedanke, dass die kleine zierliche Charlotte mich wie ein Fischstäbchen zerhacken könnte, wenn sie wollte, unbehaglich war.
„Und.. wie lange machst du das?“, fragte ich zögerlich und hoffte darauf, dass sie nicht mit einer jahrelangen Laufbahn im Bereich exotischer Kampfkünste glänzen konnte oder zumindest keinen schwarzen Gurt irgendwo drin besaß. An dieser Stelle endete jedoch auch mein Wissen über solche Aktivitäten.
„Erst seit zwei Monaten…. Davor hatte ich es mit Trapez Akrobatik versucht. Schon seit ich klein war, war ich hin und weg vom Zirkus und wollte auch sowas können. Aber….“, sie nahm ein Schluck von ihrer Cola, „Leider hat dieses ganze Wunder am Trapez zu viel körperliche Anstrengung abverlangt und ich hätte mich schmerzhaft in ein Spagat dehnen müssen. Das alles ist sehr unentspannt und hätte viel zu viel Zeit gekostet. Da habe ich damit aufgehört.“
Charlotte schaute das erste Mal auf ihr Essen und schien es gerade erst bemerkt zu haben. „Mhmmm…“, schwärmte sie. „Na dann, lass es dir schmecken!“


© Ronia Tading


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "le mystère du coeur (das Geheimnis des Herzens) - Kapitel 2.3"

Es ist wieder etwas "Längeres" :)




Kommentare zu "le mystère du coeur (das Geheimnis des Herzens) - Kapitel 2.3"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "le mystère du coeur (das Geheimnis des Herzens) - Kapitel 2.3"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.