Stell dir vor, du rennst im Regen durch London uns bist auf dem Weg zum Zug. Du läufst und läufst und plötzlich blickst du nach vorn und siehst dort jemanden auf dem Bahnsteig stehen. Euch trennen nur ein paar Meter und er steht einfach nur da und schaut zu den dunklen Wolken über euch. Dann schaut er zu dir. Er geht ein paar Schritte auf dich zu und bleibt dann vor dir stehen. Dann fragt er dich, ob du dich unter seinen Schirm stellen möchtest. Als du ja sagst, stiehlt sich ein so bezauberndes Lächeln auf sein Gesicht, dass auch du anfangen musst zu lachen. Und so steht ihr beide unter seinem Regenschirm und wartet auf den Zug. Und ihr hört, wie der Regen auf den Schirm klopft…
Es dauert eine ganze Weile, bis du den herannahenden Zug bemerkst. Tom, so sagt er dir heißt er, hat ihn schon gesehen und greift nach seiner Tasche. Aber du möchtest nicht, dass er einsteigt. Ihr könntet deinetwegen auch ewig hier draußen im Regen unter seinem Schirm stehen. Du weißt nicht warum aber du siehst diesem Fremden ins Gesicht und du fühlst dich …geborgen. Er schaut dich an und wieder breitet sich ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen aus. Er deutet mit dem Kopf in Richtung Gleis und dann nimmst auch du deine Tasche. Du steigst vor ihm ein, gehst ins erste Abteil, setzt dich in einen 2er-Sitz und betest, dass er sich zu dir setzt oder dich wenigstens noch einmal so wunderbar herzzerreißend anlächelt. Und ehe du dich versiehst hat Tom seine Tasche und den Regenschirm über dir verstaut und grinst dich schelmisch an. Du fängst an zu lachen, nickst ihm zu und er lässt sich schwungvoll auf den Platz neben dir fallen. Nach einer Weile setzt sich der Zug in Bewegung, doch du bemerkst es nicht. Nicht einmal, dass der Regen jetzt in Strömen fließt, es mittlerweile sogar gewittert und die Dämmerung langsam zur Nacht wird. Du bist viel zu sehr damit beschäftigt in dieses engelsgleiche Gesicht zu schauen. Ihr redet über die sinnlosesten Sachen aber das macht nichts, denn ihr bringt euch gegenseitig immer wieder herzlich zum Lachen.
Es wird später und in eurem Abteil immer ruhiger. Irgendwann bist du so müde, dass du die Augen nicht mehr aufhalten kannst. Mittlerweile habt ihr aufgehört zu reden, hört Musik und schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit. Du nimmst die Kopfhörer heraus und machst es dir bequem. Als Tom das sieht, schaltet er seinen IPod aus, rutscht noch ein Stück dichter und legt den Kopf auf deine Schulter. Diese plötzliche Nähe lässt einen Schauer über deinen Rücken fahren. Vor lauter Zufriedenheit schläfst du schon nach wenigen Augenblicken ein.
Am nächsten Morgen wirst du von einem Fahrgast geweckt, der sich mit einer übergroßen Reisetasche an deinem Sitz vorbeischiebt. Als du aufstehst, um dich zu strecken bemerkst du, dass etwas fehlt. Und dann schaust du auf den Platz neben dir. Er ist leer. Erschrocken blickst du dich um. Bis auf ein paar müde wirkende Leute siehst du niemanden. Und allmählich wird dir bewusst, dass du ihn vielleicht nie mehr sehen wirst. Bitter enttäuscht und tief traurig lässt du dich zurück in den Sitz fallen und fragst dich, wir du nur so dumm sein konntest, einzuschlafen, ohne ihn zu fragen, wo er aussteigt. Nach ein paar Minuten bist du sogar schon fast der Meinung, dass alles nur ein wunderschöner Traum war. Doch dann schießt dir ein Gedanke in den Kopf, du springst auf, schaust in der Gepäckablage nach seiner Tasche… und könntest vor Erleichterung fast in Tränen ausbrechen, als sie nach wie vor noch auf ihrem Platz liegt. Es vergeht noch eine Weile bis die Schiebetür des Wagons auf- und zugeschoben wird und sich vorsichtige Schritte nähern. Dann steht Tom, wenn auch sichtlich unbeholfen, mit zwei randvollen Tassen Kakao vor dir. „Good morning. Did you sleep well?“ Doch du bist nicht im Stande zu antworten. Dieses unfassbare Glück hat dir einfach buchstäblich die Sprache verschlagen. Nicht mal danke sagen kannst du. Stattdessen nickst du nur und nimmst die Tasse entgegen. Er setzt sich wieder zu dir und auf einmal fühlt es sich wieder so an wie am Abend zuvor. Du lachst, als er sein blaues Hemd mit Kakao bekleckert und er hört dir fasziniert zu, als du von deinem Zuhause in Deutschland erzählst. Du bringst ihm ein sogar ein bisschen Deutsch bei. Nach ca 2 weiteren Stunden ertönt die raue Schaffnerstimme zum gut hundertsten Mal aus den Lautsprechern. Du achtest nicht darauf doch Tom hört mit einem Mal mitten im Satz auf zu reden und schaut auf seine Uhr. Sein Gesichtsausdruck ist plötzlich sehr ernst. Dann sieht er dir lange, ruhig in die Augen bis er schließlich sagt: „It´s time. I have to get off soon.“ … Du weißt nicht, was du sagen sollst. In der Zeit, die ihr zusammen verbracht habt, hast du keine einzige Sekunde an Abschied gedacht. „Das kann nicht sein.“ Du schaust auch auf die Uhr und erschrickst, als dir klar wird, wie viel Zeit schon verstrichen ist. Sie ist quasi wie im Flug an dir vorbeigezogen. Und erst jetzt bemerkst du, dass es nicht mehr lange dauert bis du auch aussteigen musst.
Tom ist schon dabei seine Sachen zurück in die Tasche zu packen. Als er fertig ist, setzt er sich wieder zu dir, sieht dich für einen endlos scheinenden Augenblick an und du fragst dich, ob du je wieder in diese wunderschönen grau-blauen Augen schauen wirst. Der Gedanke lässt dich erschauern. Tom bemerkt deinen traurigen Blick und nimmt dich kurzentschlossen in den Arm. Du kannst die Wärme spüren, die von ihm ausgeht und vernimmst seinen bezaubernden Geruch. Er streicht dir langsam über den Rücken. Dann flüstert er dir vorsichtig ins Ohr: „Good bye… I will miss you.“ Er lässt dich los und als du ihm antwortest, versuchst du deine Stimme nicht brüchig klingen zu lassen: „Me too. Good bye.“ Genau in diesem Moment bremst der Zug und wird allmählich langsamer. Tom steht auf, zieht seine Jacke an und nimmt seine Tasche. Dann nimmt er dich ein letztes Mal in den Arm. Du schaust ihm nach als er sich ein Weg durch den schmalen Gang bahnt, doch dann fällt dir auf, dass sein Regenschirm noch unter dem Sitz liegt. Du greifst ihn dir und läufst ihm nach. Kurz bevor er an der Tür ankommt erreichst du ihn und tippst ihm auf die Schulter. Er dreht sich um und du hältst ihm den Schirm hin und sagst: „You forgot your umbrella.“ Aber Tom lächelt dich nur an und sagt: „Keep it. I give it to you.“ Und bevor er sich umdreht, um zu gehen drückst du ihm noch schnell einen kleinen Zettel in die Hand. Diese Idee kam dir erst ziemlich spät und bis jetzt hattest du dich nicht getraut Tom ihn zu geben. Er verlässt das Abteil. Und wieder schaust du ihm hinterher. Der Zug ist nun endgültig zum Stehen gekommen, die Türen öffnen sich und du verlierst ihn in der Menge. Dann schaust du runter auf den Regenschirm in deinen Händen. Du wartest noch kurz. Dann gehst du wieder zurück auf deinen Platz und setzt dich als Tom plötzlich vor deinem Fenster erscheint. Er hat ein so bezauberndes Lächeln aufgesetzt, dass es dir den Atem verschlägt. Er sieht dich an und als sich der Zug wieder in Bewegung setzt winkt er dir ein letztes Mal zu. Langsam entfernst du dich von ihm und dann immer schneller. In der Ferne wird er immer kleiner und verschwindet schließlich ganz. Du lehnst dich zurück und steckst dir Kopfhörer in die Ohren. Du hast noch ca. 2 Stunden Fahrt vor dir und als du so über das Geschehene nachdenkst, wird dir langsam bewusst, dass ab jetzt alles anders sein wird. Der Alltag, der dich schon in kurzer Zeit wieder einholen wird scheint dir unendlich weit weg. Und trotz aller Zweifel hast du noch Hoffnung, dass ihr euch irgendwann wiedersehen werdet, denn auf dem Zettel, den du ihm gegeben hast, stand deine Adresse.


© Ketlin Merchant


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Beschreibung des Autors zu "Stell' dir vor (1)"

Du begegnest an einem regnerischen Tag in London dem blauäugigen Tom. Stell' dir die Situation vor. Und jetzt denke dir eine Geschichte dazu aus.




Kommentare zu "Stell' dir vor (1)"

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: Milkamaus   Datum: 17.04.2014 14:48 Uhr

Kommentar: So mitreißend geschrieben, dass man am Ende selbst das Gefühl hat, in diesem Zug zu sitzen. Du schaffst es den Leser als Protagonisten in die GEschichte zu integrieren. Klasse Leistung. LG Sylvia

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 3:39 Uhr

Kommentar: Eine wirklich phantastische Geschichte in jedem denkbaren Sinn, toll!
Aber - wohin, um Himmels Willen, seid ihr denn auf der Insel so lange gefahren, über Nacht und dann noch stundenlang, das muss ja mindestens - wenn nicht sogar - also wenigstens bis Thurso gegangen sein, wenn bis dahin überhaupt eine Bahnlinie führt...
Hat mir prima gefallen!
noé
("...Schauer deinen Rücken fahren...": hier ist wohl ein "über" zu früh ausgestiegen...)

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: Ketlin   Datum: 18.04.2014 12:27 Uhr

Kommentar: Das Problem hatte ich auch schon, und ich hab mir gedacht, dass sie von London aus durch den Eurotunnel nach Frankreich fahren. Aber das würde ohne Umsteigen denke ich auch nicht gehen. Also mal schauen, was ich da noch mache.

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 13:25 Uhr

Kommentar: Warum kann es nicht in Paris, Rom - oder Moskau regnen? Wir sind doch alle Globalbürger...
noé

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: Ketlin   Datum: 18.04.2014 16:31 Uhr

Kommentar: Ja klar, könnte es auch aber ich habe mich in der Geschichte an einem Tom orientiert, der selbst auch wirklich in London wohnt. Abgesehen davon finde ich, dass London eine der schönstenund romantischsten Städte ist - die auch noch für ihr Regenwetter berühmt ist.

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 16:56 Uhr

Kommentar: Ich muss Dir eine Illusion rauben: "...nicht London ist Europas Regenmetropole, sondern die Stadt an der Saale (Halle, meine Anmerkung). Das zeigt eine aktuelle Studie. In dieser Studie vergleicht die Statistikbehörde Urban Audit die Anzahl der Regentage im Jahr 2004 in mehr als 300 europäischen Städten. Das Ergebnis: Nicht nur in Halle, auch in Köln sollten Gummistiefel und Friesennerz zur Grundausstattung gehören. Mit 266 und 263 Regentagen, sind sie die niederschlagreichsten Städte Europas...." (Zitat aus Bild.de)
Das mit dem Tom entschuldigt natürlich alles. Aber auch DER könnte ja in der Welt 'rumkommen...;o))
Schönes Fest Dir!
noé

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: Ketlin   Datum: 18.04.2014 22:07 Uhr

Kommentar: Ok... so bin ich natürlich bin noch nicht rangegangen...
Aber welche Strecke, die einen schönen Ort einschließt, würde denn der Strecke in so einer Geschichte gerecht werden?

Ach und dankedanke ♥ dir auch

Re: Stell' dir vor (1)

Autor: noé   Datum: 18.04.2014 22:17 Uhr

Kommentar: Wofür bedankst Du Dich, Ketlin? ;o))
Ist nicht Englang durch den Eurotunnel mit "dem Festland" verbunden? Vielleicht reist ihr ja tatsächlich in London los, aber fahrt über Paris oder welche Stadt auch immer nach - keine Ahnung - Warschau oder Berlin oder Madrid oder wohin auch immer dieser ensprechende Zug fährt; da müsste man, wenn es einem wirklich so wichtig ist, mal ein bisschen recherchieren...
noé

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