"Was ist denn jetzt eigentlich mit der Votzenscheiße?" Er sprach weder besonders laut noch übertrieben eindringlich. Musste er bei diesem Thema auch nicht. Und dennoch schmerzte jedes einzelne Wort. Als würde jemand mit einer glühenden Nadel in mein Gehirn stechen und das Nervenwasser an der Großhirnrinde dickflüssig wie geschmolzenes hinunter laufen. Mindestens die letzten vier Bier gestern waren zu viel. Und die Tequila. Aber es musste sein. Und in dem Moment war es auch genau das Richtige. Das einzig Mögliche.
"Was soll damit sein?" Für einen Blick in den Spiegel war es definitiv noch zu früh. Wenn ich auch nur halb so beschissen aussah wie ich mich fühlte musste ich mir diesen Anblick unbedingt ersparen. Eigentlich musste ich diesen Anblick auch unbedingt vor ihm verbergen. Aber er hatte sich selbst rein gelassen. Den Schlüssel zu meiner Wohnung hatte ich ihm gegeben, nachdem ich mich im vergangenen Frühling einmal selbst ausgesperrt und 250,- Euro für einen Schlüsselnotdienst bezahlt hatte. Für solche oder ähnliche Notfälle. Und das hier war garantiert kein solcher Notfall. Mag sein, dass er anders betrachten mochte. Votzenscheiße, sicher! spurlos war die Geschichte nicht an mir vorüber gegangen. Aber für einen Notfall war es bei weitem nicht schlimm genug. Im Gegenteil: der Wirt gestern hatte sich riesig über meinen desolaten Zustand gefreut. Auch wenn er nicht viel davon mitbekommen hatte außer dem immensen Deckel den ich fabriziert hatte. Wahrscheinlich hat er sich sogar eher über letzteres gefreut. Der Grund dafür mag ihm herzlich egal gewesen sein. Wahrscheinlich hätte er sich über einen Deckel in gleicher Höhe von jemandem mit guter Stimmung noch mehr gefreut. Aber damit konnte ich gestern beim besten Willen nicht dienen.

Er knallte seinen Schlüssel auf die Kommode nur um mein schmerzverzerrtes Blinzeln zu sehen. "Der war eigentlich für Notfälle gedacht!" Das Licht schien stark genug um meinen Sehnerv zu durchtrennen. Gleichzeitig wurde eine Zentrifuge in meiner Magengegend unsanft gestartet. Am Liebsten hätte ich mich sofort wieder in mein Bett verkrochen, die Augen geschlossen und geduldig darauf gewartet, dass das Karussell in meinem Kopf an Fahrt verlieren würde. Aber das hätte seinem Spott, den ich unter anderen Umständen ohne mit der Wimper zu zucken zu teilen bereit gewesen wäre, nur noch mehr provoziert. Und im Moment war auch schon das Zucken einer Wimper eine Bewegung, die ohne Weiteres meinen Tod verursachen konnte. "Hast du dich schon mal im Spiegel betrachtet? Sieht für mich schon nach einem Notfall aus!"
Ich hatte mich getäuscht. Es lag kein Spott in seiner Stimme. Er sprach diese Worte im Tonfall ernster Sorge zu mir. Ich hatte ihn von Anfang an in diese Situation mit einbezogen. Und seit dem hatten wir oft darüber geredet. Und mindestens genau so oft hatten wir aneinander vorbei geredet. Während ich gerne irgendetwas darüber erfahren hätte, wie ich es trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit doch noch fertig bringen konnte, ihre Zuneigung zu gewinnen ging es ihm immer darum mich auf einen Weg zu setzen, auf dem ich erfahren würde, wie und warum ich es immer und immer wieder schaffe, mir die falschen Frauen auszusuchen um sie, wie er es nannte, mit meiner Liebe überschütten zu wollen. Und auch, warum ich Frauen, die sich genau darüber sehr freuen würden, meinerseits als die falschen betrachtete.
Er nahm seine Zigaretten aus der Innentasche bevor er seine Jacke auszog und an der Garderobe aufhing und streckte mir, halb demonstrativ, halb selbstverständlich, die Schachtel Kippen entgegen. "Für dich ist es wahrscheinlich noch ein bisschen zu früh, oder!? Ich geh mal eben auf den Balkon; gibt dir Zeit dich zu sortieren!" Ich ging ins Bad, entließ ein paar Getränke der letzten Nacht in die Dunkelheit der Kanalisation und warf mir vier Hände kaltes Wasser ins Gesicht. Es fiel mir schwer dabei nicht in den Spiegel zu schauen. Und was ich aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte nahm mir jeglichen Mut mir das ganze Ausmaß der letzten Nacht ein bisschen genauer zu betrachten. Rauchen, das hatte er vollkommen richtig erkannt, konnte ich jetzt noch nicht. Aber vielleicht würde mir ein bisschen frische Luft ja gut tun. Ich schaltete den Wasserkocher ein um mir eine Tasse Tee zu machen und ging zu ihm hinaus auf den Balkon.

"Willst du auch einen Tee?" - "Tee!? Klar, wieso nicht! Schwarz, bitte! Wenn du hast." Ich nickte. Es war kalt genug um auf den ersten, verschwommenen Blick nicht genau erkennen zu können, ob es Rauch oder einfach sein Atmen war der in Schwaden seinem Mund verließ um sich in der spätherbstlichen Mittagssonne zu verlieren. Ich begann auf der Stelle zu zittern nach dem ich die erste Lunge frischer Luft eingeatmet hatte. Ich ging nach drinnen, zog mir eine Jacke über und trat mit zwei Tassen dampfenden Tees wieder über Schwelle zu einem Tag überschritt der so tat, als sei alles in bester Ordnung. Und im Grunde war es das auch. Dafür sollte, das hatte ich mir gestern fest vorgenommen, mein Kater sorgen.
Nach den ersten beiden Schlucken Chai mit viel Milch und Honig bat ich ihn um eine Kippe. Wohl wissend, dass ich sie bis auf drei, wenn es gut lief vier Züge zwischen meinen zittrigen Fingern einfach verqualmen lassen würde. Er ließ die Flamme ein wenig länger als notwendig über seinem Feuerzeug stehen, so dass die Situation für einen kurzen Augenblick etwas katholisch anmutete. Ich paffte die ersten drei Züge lediglich um mich ganz langsam an die schwindelerregende Wirkung des Nikotins einer ersten Zigarette des Tages zu gewöhnen. "Wirst du sie wiedersehen?" Diese Frage kam so unvermittelt, dass sie mir einen kleinen Stich beibrachte. Denn ich wusste die Antwort. Ich wusste sie gestern schon; noch bevor ich den ersten von ungezählten Schlucken Bier meine traurige Kehle hinunter laufen ließ. "Nein! Ich bin fertig mit ihr." Er lächelte. Ich inhalierte. "Gut so!" Es war nicht mehr die Frage, ob sie die Richtige für mich sein könnte. Das "Warum?" und das "Warum nicht?" oder "Warum ich?" waren ebenso wenig der Situation angemessenen Fragen mehr wie mein Wille, an ihr festhalten zu wollen. Es ging einfach nur noch darum, sie so schnell wie möglich zu vergessen. Die Wärme die von ihr ausging und der Lichtkranz, den ich ihrer Erscheinung hinzu gedichtet hatte. Ihr herzerweichendes Lächeln und nicht zuletzt ihr unglaublich attraktiver Körper, der so immens viel Lust versprechen konnte. Das alles waren Erinnerungen an eine Zeit, in der ich nicht ganz bei mir selbst gewesen war. Wie wenn man sich im Urlaub der Vorstellung hingibt, dass es doch bestimmt schön sein müsste wenn man für immer an diesem Ort wohnen könnte. Das Gefühl, das mit einer solchen Vorstellung einher geht, ist großartig. Aber es wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Es geht viel eher darum dieses Gefühl einfach zu genießen anstatt sich Gedanken darüber zu machen wie man es erreichen könnte diese Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen.

Ich zog an meiner Zigarette und versuchte mich an einige der Gedanken zu erinnern an denen er mich teilhaben ließ. Versuchte mich zu erinnern, warum es seiner Ansicht nach mit ihr nichts werden konnte und warum ich mich in sie verknallt hatte und warum ich die Aussichtslosigkeit, in die ich mich dadurch gebracht hatte, nicht hatte erkennen können. Ich suchte seinen Blick. Wie als könnte ich durch ihn noch einmal in diese Gespräche eintauchen, zu diesen Momenten zurückkehren und seine Worte noch einmal neu betrachten. Doch er hatte seine Augen an den Himmel geheftet als versuche er in den vorbeiziehenden Wolken Hinweise auf eine ungeschriebene Zukunft zu entdecken. Sein Blick glitt ruhig über die vor uns liegenden, reifbedeckten Dächer bevor ich sagen hörte:"Die wenigsten Menschen machen sich wohl die Unterschiede zwischen Eros und Caritas bewusst und sagen zu beidem einfach 'Love'. Als sei nichts dabei. Und wahrscheinlich ist das auch gut so. Du bist Eros, sie ist Caritas. Nicht im Allgemeinen und nicht für alle Menschen, natürlich. Aber füreinander. Was du von ihr wolltest konnte sie dir nicht geben, weil du ihr nicht geben konntest, was sie will. Du hast dich mit deinem Willen an ihrer Oberfläche aufgehängt und sie hat dich dort hängen lassen. Weil das die einzige Möglichkeit für sie gewesen ist mit ihrem Interesse Zugang zu dir zu finden. Und solange du hilflos an ihren Titten und ihrem Arsch hingst erschienst du ihr zumindest ansatzweise attraktiv. Du hättest dich kleiner und schwächer zeigen müssen als du bist um dich in ihr Herz zu schleichen. Und dass du das nicht getan hast,..." er schaute mir bei diesen Worten fest in die Augen. Und dennoch sah ich den Schalk in seinen Augen blitzen. Ich spürte wie alles, was er mir soeben und in den Gesprächen vorher zu dieser Situation gesagt hatte, über mich herein brach und das Elend einer durchzechten Nacht, das bis dahin vorbehaltlos in meinem verkaterten Körper gewütet hatte, in die Bereitschaft zu Hochleistungssport verwandelte. "Und das du das nicht getan hast zeigt mir, dass mit dir mehr in Ordnung ist als du dir selbst zuzugestehen bereit bist." Er drückte seine Zigarette in dem übervollen Aschenbecher aus und trank den letzten Schluck Tee aus seiner Tasse. "Wasch dir erstmal den Suff vom Körper. Und wenn du Lust hast kommst du später vorbei. Ich habe neue DVDs und würde mich freuen, die eine oder andere mit dir zu kucken." Und daraufhin verschwand er beinahe genau so unbemerkt wie er gekommen war.

Nachdem ich geduscht, noch zwei Stunden geschlafen und mich angezogen hatte fiel mir auf, dass sein Schlüssel zu meiner Wohnung noch an genau der Stelle lag, an die er ihn so geräuschvoll abgelegt hatte. Ich steckte ihn ein und machte mich auf den Weg. Zu Ihm.


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