"Na, wie geht´s? Alles wohlauf?" fragte ich ein wenig zu salopp die Frau, die gerade ihren Einkaufswagen wieder abstellen wollte. Beim Elternsprechtag saßen wir einmal nebeneinander und warteten auf das Gespräch mit dem Lehrer unserer Kinder. Sie schaute mich an, erkannte mich wieder und antwortete in sich versunken: "Uns geht es nicht gut, wissen Sie! Uns geht es wirklich nicht gut."
"Darf ich nach den Ursachen fragen?" kam es mir über die Lippen, obwohl ja hier nicht der richtige Ort für ein seelsorgerliches Gespräch war.
"Ach ja. Ich bin froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann, Herr Pastor. Wissen Sie, mein Mann stand immer über allen Dingen," erzählte die Frau. "Kirche brauchte er nicht, Religion war für ihn >Sache alter Leute, die mit der Realität abgeschlossen haben<. Seine Angestellten stellte er zur Rede, wenn sie zu lange krank waren. Wenn er feierte, musste es immer im großen Rahmen sein. Dann stand er im Mittelpunkt. Natürlich rauchte er viel und trank auch gelegentlich einen über den Durst. Mit Witzen, die selten stubenrein waren, suchte er die Leute zum Lachen zu bringen. Sein Verhältnis zu den Frauen war das eines ausgeprägten Machos. Verständnis für Leid, Sorgen, Schwierigkeiten seiner Mitmenschen hatte er nie. Seine Kinder wies er schroff zurecht, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzten. Es war immer sehr schwierig, mit ihm umzugehen. Deshalb hatte er auch keine Freunde, allenfalls solche, die mit ihm ins gleiche Horn blasen konnten." Ich merkte, die Frau war so voller Not, dass sie jemand brauchte, dem sie ihr Schicksal anvertrauen konnte.
"Ja - und dann stellten die Ärzte eines Tages fest -," fuhr die Frau mit einem tiefen Seufzer fort, "dass mein Mann Hodenkrebs hat mit Metastasen bis in die Lunge. Man hat ihn gleich operiert. Er musste die unangenehme Chemiebehandlung durchstehen und hat lange gebraucht, bis er wieder einigermaßen zurechtgekommen ist. Wir hatten alle so große Angst um ihn. Er hat wohl die Krise überstanden.
Nun weiß er, dass er nur noch eine kurze Zeit zu leben hat. Vielleicht ein Jahr, vielleicht zwei Jahre. Es geht ihm ja soweit gut, er fühlt sich auch ganz gut, aber er hat natürlich vor Augen, dass seine Lebensuhr sehr bald abgelaufen sein kann."
Dann schweigt die Frau eine Weile und fährt deutlich zuversichtlicher fort: "Aber stellen Sie sich vor. Die Krankheit oder vielleicht auch das Bewusstsein, dass er nur noch wenig Zeit hat, hat ihn in seinem ganzen Verhalten verändert. Er geht sogar mit mir in die Kirche. Wir sprechen über den Sinn des Lebens, über Sterben und - was mich am meisten wundert - er spricht nun vor dem Essen ein Tischgebet. Manchmal meine ich sogar, dass er morgens und abends vor dem Aufstehen und beim Zubettgehen die Hände faltet.
Arbeiten kann er ja nicht mehr. Aber er fragt, wie es diesem und jenem geht und nimmt sehr betroffen teil an den Nöten und Gebrechen seiner Mitmenschen. Er fragt nach den Kindern, wie sie in der Schule zurechtkommen und gibt ihnen in aller Ruhe sinnvolle Hinweise. Das Rauchen hat er eingestellt und wenn er hin und wieder ein Glas Wein mit mir trinkt, dann ist es schon viel.
Er ist ein ganz anderer Mensch geworden." Als ich der Frau die Hand zum Abschied reiche, sagt sie ganz still: "Wie schön wäre es, wenn mein Mann so ein sinnvolles Leben geführt hätte, als er noch gesund war!"
Kommentar:WOW! Ich bin echt sprachlos. Diese Geschichte ist so wundervoll und realistisch. Ich bin sehr begeistert und würde mich auf mehr solcher Geschichten freuen :)
Kommentar:So schade, dass "diese Charaktere" erst an solchen Wendepunkte im Leben zum Umdenken kommen. Toll, was sie Frau so durchgehalten hat (wie es scheint, nicht verbittert). Das scheint mir auch erwähnenswert.
noé
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