Der Brief

Lieber Freund,
Danke für Deine letzten Nachrichten. Ich freue mich immer sehr, von Dir zu lesen. Endlich komme
ich nach langer Zeit wieder dazu, Dir auch etwas zu schreiben.
Es ist so viel geschehen, dass ich nicht einmal weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht bei der aktuellen
Situation - .

Ich befinde mich in einem Einzelzimmer der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses zu Visp.
Visp ist ein kleines Städtchen im Wallis, umgeben von hohen Bergen.
Mein Vater ist mit dem hiesigen Chefarzt befreundet, und musste diesen vor einigen Tagen
konsultieren, weil wir zu Hause mit seinem Zustand mehr und mehr überfordert waren. Er hatte seit
Wochen sein von ihm selbst verdautes Blut erbrochen, doch vor einigen Tagen kam auch frisches
Blut. Zusätzlich erlitt er eine Lungenembolie - keine Seltenheit bei seiner Tumor-Art. Er drohte zu
ersticken.

Glücklicherweise bekamen wir durch den guten Willen des Chefarztes kurzfristig ein Einzelzimmer
am Ende des Gangs. Hier ist es ruhig und friedlich. Wenn man aus den Fenstern schaut, sieht man
direkt auf einen Friedhof. Auf dem Stockwerk unter uns kommen jeden Tag neue Menschen zur Welt.
An diesem Ort vereinen sich alle erdenklichen Phasen des Lebens, so scheint es.
Jetzt haben wir tiefe Nacht. Soeben erwachte Vater aus einem Alptraum. Er hatte gerade 20 Minuten
geschlafen. Das ist fast schon Routine geworden. Er erwacht jede Nacht, wieder und wieder, immer
nach ungefähr 20 Minuten. Das Haldol, welches er seit gestern früh bekommt, hat daran nichts
geändert. Zuvor konnte er sich nicht erholen, weil er seinen eigenen Gallensaft aspirierte. Jetzt weckt
ihn die Angst. Panikattacken.

Kaum schlägt er die Augen auf, greift er nach meiner Hand: „Stimmt’s, du gehst nicht weg! Du gehst
nicht weg, stimmt’s? Du nicht!“

Immer wieder muss er sich vergewissern, dass ich noch bei ihm bin. Ich habe diese Klinik seit zwei
Wochen nicht verlassen. Immerzu war ich entweder in seinem Zimmer oder an den
Versorgungsschränken auf dem weiten, kahlen Flur. Sie lassen es zu, denn sobald sein Atem
hektischer wird oder sein Bauch wie der Abfluss einer Badewanne klingt, haben wir alle Hände voll
zu tun. Vater und ich -.

Es kommen viele Medikamente durch den Tropf. Nur kein Morphium. Er will klar im Kopf bleiben,
solange es geht. Er ist Arzt, will mitreden. Nur - zu welchem Preis? Im Krankenhaus gibt es kein
Tramal. Dieses Medikament ist das einzige Schmerzmittel, das er verträgt. Ich habe ihm aus seiner
eigenen Praxis bereits einige Ampullen kommen lassen. Seine Assistentin weinte bitterlich. „Er ist
doch noch so jung“, schluchzte sie. Ja, er wurde Anfang diesen Jahres 53 Jahre alt. Meine jüngste
Schwester ist erst drei.

Auch Nährlösung und andere überlebensnotwendige Flüssigkeiten werden über die Venen in seinen
Organismus gepumpt. Vater hat großen Durst und darf nicht trinken - dabei will er lediglich einen
winzigen Schluck Eiswasser haben. Nur zum probieren. Manchmal gebe ich seinen Bitten nach - doch
das rächt sich spätestens nach fünf Minuten.

Metallschüssel, Taschentuch, Wasserglas, Kochsalzlösung - jetzt kommt nur noch gelbe Suppe aus
ihm heraus. Sie stinkt nach Verwesung. Eigentlich müssten seine Exkremente andere Wege gehen.
Aber das geht nicht mehr. Seine Haut ist gelb geworden. Nur die Lippen nicht. Die sind blau.
Ich sage zu ihm: "Daddy, wenn dein Körper nur noch ein Gefängnis ist, dann wird es Traumzeit. In
deinen Träumen kannst du fliegen, trinken, essen, scheißen, laufen, atmen, und es tut dir gar nichts
weh."

...dann nickt er.

Doch das Ding hat einen Haken: Wenn Vater in einer schwierigen Lebenssituation steckt, dann träumt
er immer von seiner Armeezeit. Nachts verschieben sich die Grenzen zur Realität, weil er ständig
schläft, ohne jemals richtig wegzutreten.
Er denkt dann an die Wirklichkeit dessen, was er sagt. Dann reden wir. Ich nehme ihn ernst. Ich spiele
mit.

Gestern Nacht hieß es: "Die Russen waren es!"

"Was meinst du damit, Dad?"

"Die Russen haben die Kaffeekapseln vergiftet und mir damit den Magen versaut! Du siehst es an
meiner Kotze, das ist Kaffeesatz! Siehst du? Schade um den guten Kaffee."

Wie soll ich darauf reagieren? Verdautes Blut ist schwarz wie Kaffeesatz.

Wenn ich neben ihm lauschend auf dem Liegestuhl sitze und warte, bis morgens die ersten Vögel
erwachen - weil ich es genieße, dieses wundervolle Konzert aus der ersten Reihe vernehmen zu dürfen
- empfange ich stattdessen nur noch das Getöse des Grauens. Aus Vaters Bauch kommen diabolische
Geräusche. Manchmal hört es sich so an, als sei der Tumor die Ausgeburt eines Ungeheuers, welches
frisst, wächst und dann laut, ja empört aufschreit, sobald die nächste Dosis Novalgin durch den Port
fließt. Dieses Biest zersetzt alles: Die Knochen, die Gedärme, die Lunge, die Schleimhäute, das Hirn –
wo ist nur der richtige Kammerjäger geblieben?

Meine Mutter war in den letzten Tagen auch hier. Sie ekelt sich, sie schläft schlecht, sie heult und
weint, sie hat Mitleid - vor allem aber mit sich selbst. Jetzt wird sie noch seltener kommen. Ihr
Gewissen ist nun einigermaßen sauber. Niemand kann sagen: „Du warst nicht da!“

Doch jetzt, wo sie noch seltener kommt, ist mir die Möglichkeit von drei Stunden Schlaf am Tag nicht
mehr gegeben. Stattdessen erhalte ich esoterische Ratschläge. Vater auch. Wir können beide nichts
damit anfangen. Was soll er denn davon halten wenn man ihm sagt: "Du hast es dir so auf der
Seelenebene ausgesucht...", oder "Warum bist du gestern nicht schon gestorben, warum müssen wir
dich jetzt leiden sehen?" - da habe ich meiner Mutter Zigaretten angedreht und sie auf die Idee
gebracht, doch lieber zu Hause zu bleiben.

Tja - jetzt hast Du einen kleinen Einblick in den derzeitigen Ablauf an diesem meinen Ort des
Lebens.... Ich dachte früher mal, dass man nur Menschen, die man sehr hasst, den Tod wünschen
kann... aber jetzt sehe ich, dass es ein Irrtum war.

Bitte erzähle mir schöne Sachen aus Deinem Leben, mein Freund. Darüber würde ich mich sehr
freuen.

Liebe Grüße,

Deine

Freundin (Copyright by Nina Meyer-1A TEXT 4U Ghostwriting / www.ninameyer.ch)


© Nina Meyer (1A TEXT 4U)


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Beschreibung des Autors zu "Der Brief"

Der Brief stellt drei Situationen des Lebens dar, die sich wohl nur den Mutigen erschließen können:

- solchen, die unverschuldet leiden und dennoch bis zum Ende gehen
- jenen, die ihren Egoismus dafür opfern, anderen beizustehen
- allen guten Freunden, die das Zuhören nicht verlernt haben

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Kommentare zu "Der Brief"

Re: Der Brief

Autor: Nome   Datum: 17.08.2013 21:19 Uhr

Kommentar: Guten Abend Nina..

leicht beschwingt ohne Gedankenlast habe ich mich an den Laptop gesetzt..und diesen..deinen Brief geöffnet..sprachlos..aber nicht gedankenlos nun die meine Seelenverfassung..in solcher Tiefe kann man nur aus eigenem Erleben schreiben..aus tiefer Liebe..es entstehen Bilder..eigene vergangene Bilder..hier wird oft die Qualität des Geschriebenen bewertet..aber diese intime Erfahrungswiedergabe sollte niemand bewerten..sondern nur mitfühlend erlesen..

Liebe Grüsse..Andreas

Re: Der Brief

Autor: Nina Meyer   Datum: 17.08.2013 21:29 Uhr

Kommentar: Danke für den einfühlsamen Kommentar, Andreas :)

Re: Der Brief

Autor: noé   Datum: 03.12.2013 6:46 Uhr

Kommentar: ...ich...
...schreibe Dir lieber eine Privatnachricht...
Adventgrüße von noe

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