Jeden Tag kam sie in das Café und setzte sich an einen der Tische am Fenster. Von dort aus konnte sie auf die Fußgängerzone hinausblicken, während sie einen Earl Grey mit Zimtgeschmack trank. Nur wenige Tage hatte es gedauert, bis Anna bemerkte, dass die Dame regelmäßig erschien und immer dasselbe verlangte. Nun bereitete die Bedienung den Tee bereits zu, wenn sie das Café betrat. Kaum hatte die Dame sich gesetzt, brachte Anna ihr den Glasbecher mit ihrem Tee und stellte ihn auf den runden Caféhaustisch. Die Dame wandte sich dann der Kellnerin zu und lächelte sie an.

Anna gab ihren Gästen gerne Namen. Damit wurden sie menschlicher und Anna bekam das Gefühl, dass jeder von ihnen einzigartig war. Bei manchen Gästen gelang es ihr jedoch nicht. Sie blieben für Anna verschwommen und sie unterschieden sich nur in ihrem Geschlecht. So nannte sie die Bedienung entweder Frau Krause oder Herr Meier. Mehr Vorstellungskraft brachte sie nicht auf.

Doch dann gab es auch die anderen, bei denen sich die Namen geradezu aufdrängten. Manchmal war sie enttäuscht, wenn sie zufällig den richtigen Namen erfuhr. Da gab es einen älteren Herrn, der einige Zeit das Café besucht hatte und Anna davon überzeugt gewesen war, dass er Aaron heißen musste. Das war der einzige Name, der ihm nach Annas Meinung gerecht wurde. Doch wie enttäuscht war sie, als sie eines Tages erfuhr, dass er Klaus hieß.
Bei der Dame nahm sich Anna vor, nie ihren tatsächlichen Namen zu erfahren. Sie sah aus wie eine spanische Gutsherrin, wenigstens so, wie Anna sich spanische Gutsherrinnen vorstellte und somit konnte sie nur Isabell heißen.

Anna mochte solche Gäste. Isabell wirkte ein wenig zurückhaltend, aber freundlich. Sagte sie „Vielen Dank“, klang ihre Stimme wie der Samtbezug des Caféhausstuhls, auf dem sie saß. Anna bemerkte die winzigen Lachfältchen um die Mundwinkel und das sanfte Leuchten in der graublauen Iris. Isabells Hände waren feingliedrig und sie trug nur zwei Schmuckringe, die zu ihrem Kostüm passten. Für so etwas hatte Anna ein Auge. Sie achtete auf Kleinigkeiten und versuchte, sie sich ins Gedächtnis einzuprägen. Details waren es, die den Unterschied ausmachten. Kleinigkeiten, die sie später verwenden konnte.

Das Café war nicht sehr groß. Vor der Kuchentheke gab es ein halbes Dutzend Tische, die sich in dem Raum verteilten und nur weiter hinten im Raum, nahe der Garderobe und dem Eingang zur Toilette, stand ein länglicher Tisch mit zwei Sitzbänken. Doch dorthin setzte sich niemand. Die Gäste mochten die winzigen Ceféhaustische, von denen aus sie zum Fenster hinausblicken konnten. Dort aßen sie Kuchen und tranken Kaffee. Und sie verhielten sich leise, dass in dem Café eine fast andächtige Stimmung herrschte. Anna empfand das als angenehm.

Die Arbeit war nicht schwer und sie mochte diese Ruhe. In ihrer Pause setzt sich auf die Sitzbank im hinteren Teil des Raumes. Von dort aus hatte sie das gesamte Café im Blick. Wenn kein Gast nach ihr rief, nahm sie einen Skizzenblock aus ihrer Tasche. Er war nicht größer als ein Notizbuch und Anna begann, all die Kleinigkeiten der Gäste zu zeichnen, die sie im Laufe des Tages beobachtet hatte. Manchmal versuchte sie sich auch mit einer Skizze an einem der Gäste, der an seinem Tisch saß. Doch bemühte sie sich, es ihn nicht merken zu lassen. Später, zu Hause, arbeitet sie dann die besten Skizzen als Aquarell aus und hierzu benötigte sie die Details, die sie an den Tischen beobachtete.

Da Isabell jeden Tag kam, war sie für Anna ein ideales Beobachtungsobjekt. Wenn es auch aussah, als würde Isabell ausschließlich die Passanten auf der inzwischen herbstlich gewordenen Fußgängerzone beobachten, so bemerkte sie sehr wohl die junge Bedienung hinten am Tisch über ihren Skizzenblock gebeugt. Sie sagte nichts dazu und nahm sich vor, am nächsten Tag das gleiche Kostüm anzuziehen.

Anna arbeitete an ihren Bildern langsam. Es störte sie, wenn ein Detail nicht stimmte und sie hatte alle Zeit der Welt. Sie musste die Bilder nicht verkaufen. Sie war Kellnerin von Beruf. Das war ihre Bestimmung und sie wusste es. Es würde immer so sein. Aber sie liebte es, zu malen. Und auch das würde immer so sein.

Als die Tage regnerischer wurden, kamen nur noch wenige Gäste in das Café. Doch jeden Tag zur gleichen Zeit erschien Isabell und Anna bereitete ihren Earl Grey mit Zimtgeschmack zu. Nun setzte sich die junge Frau schon während der Arbeitszeit an den Tisch und begann, an ihren Skizzen zu arbeiten, während Isabell hinaus in den grauen Regenvorhang schaute.
Gelegentlich sah Anna von ihrer Arbeit auf, dass sie keinen Gast, der unvermittelt das Café betrat, übersah. Doch das Lokal wirkte wie ein Stillleben und sie konzentrierte sich wieder auf ihre Skizzen. Anna bemerkte Isabell erst, als sie neben ihr stand. Die Bedienung hob den Kopf und die Dame lächelte ihr zu, ehe sie die Tür zur Toilette öffnete.

Bewegung im Raum machte Anna unruhig. Dann hatte sie das Gefühl, etwas tun zu müssen. So stand sie auf und ging hinter die Kuchentheke, wenigstens so lange, bis die Dame an ihren Tisch zurückgekehrt war. Isabell blieb lange auf der Toilette, doch schließlich kam sie zurück. Sie setzte sich aber nicht mehr an ihren Tisch; stattdessen zahlte sie bei Anna und verließ das Café.

Da Anna noch eine Weile hinter der Kuchentheke stehen blieb, bemerkte sie den Zettel auf ihrem Skizzenblock erst später. „Ein wenig mehr Schatten um die Augenwinkel“ stand darauf und Anna wurde rot.

Als Isabell an folgenden Tag das Café betrat, war Anna verlegen. Sie behielt ihren Skizzenblock in der Tasche. Doch Isabell verlor kein Wort darüber und langsam beruhigte sich die Bedienung wieder. Doch als Anna später Isabells Tisch abräumte, fand sie neben dem Teebecher ein kleines Foto von der Dame, wie sie in ihrem Kostüm halbabgewandt an einem Fenster saß und hinausblickte.

Anna sah erschrocken durch die tropfenverschmierte Fensterscheibe hinaus auf die regennasse Straße. Isabell aber war in dem grauen Dunst nicht mehr zu sehen. Anna überlegte eine Weile, was sie nun machen sollte. Schließlich aber kam sie zu dem Schluss, dass Isabell diese Fotographie zweifelsohne nicht zufällig liegen gelassen hatte und Anna sie unbedingt finden sollte. Noch immer war der Bedienung nicht wohl zumute, doch steckte sie das Bild in ihre Tasche.

Das Foto war sehr scharf und ermöglichte es Anna am Abend, viel mehr Details zu erkennen, als es ihr der flüchtige Blick im Café erlaubte. Sie arbeitete auch an ihrem darauffolgenden freien Tag an dem Aquarell. Dabei vergaß sie auch nicht, in dem Augenwinkel, welches bei dem halbabgewandten Gesicht zu erkennen war, ein wenig mehr Schatten einzuarbeiten.
Am nächsten Tag kam Isabell nicht ins Café und auch am übernächsten nicht. Darüber war Anna sogar ein wenig erleichtert. Noch immer beunruhigte sie der Gedanke, dass es jemanden gab, der um ihre Leidenschaft wusste. Bislang hatte sich niemals jemand ernsthaft für ihre Malerei interessiert. Bei Isabell war sie sich nicht so sicher.

An den sonnigen Oktobertagen füllte sich das Café wieder, dass Anna nicht an ihren Skizzen arbeiten konnte. Nun malte sie nur an den Abenden und bediente tagsüber ausschließlich die Gäste. Es störte Anna nicht weiter, Bedienen war ihr Beruf.

Bald auch kam Isabell wieder und nun freute Anna sich darüber. Sie stellte den Earl Grey mit Zimtgeschmack auf den Caféhaustisch und die Dame dankte ihr mit einem Lächeln. Da es kälter geworden war, trug Isabell nicht mehr ihr Kostüm. Nun war es ein Hosenanzug, über den sie einen beigefarbenen Schurwollmantel mit Reverskragen trug. Es wirkte nicht weniger elegant als das Kostüm und Anna bemerkte, dass Isabell für sie immer eine spanische Gutsherrin bleiben würde.

Langsam färbte der Regen die Blätter an den Bäumen gelb und wenn sie von den Ästen fielen, trieb der Wind sie durch die Straßen. Inzwischen hatte Anna ihre Arbeit an dem Aquarell beendet. Es hatte lange Zeit in Anspruch genommen, aber es waren auch eine Menge Details gewesen, die sie einarbeiten konnte. Das hatte sie Isabells Bild zu verdanken. Nun stand das Aquarell auf einem Stativ in Annas Wohnzimmer und immer, wenn die Bedienung nach Hause kam, betrachtete sie es.

Isabell gegenüber erwähnte sie nichts davon. Sie kam weiterhin täglich und setzte sich an ihren Tisch. Anna brachte ihr den Tee und manchmal glaubte sie in Isabells Augen ein kleines Blinken wahrzunehmen. Dann war die Bedienung überzeugt, dass Isabell gerne nach dem Fortschritt ihrer Arbeit gefragt hätte. Aber sie tat es nicht.

Doch Anna glaubte, in dem Blick einen Vorwurf zu erkennen und wenn sie abends nach Hause kam, sah sie den gleichen Ausdruck auf dem Aquarell. Bei all den anderen Bildern, die in ihrer Wohnung hingen, hatte sie dieses Gefühl nicht. Sie gehörten ausschließlich ihr und niemand wusste von ihnen.

Die Uhren waren auf Winterzeit umgestellt worden und so begann die Dämmerung nun bereits kurz nach vier einzusetzen. Auf der Fußgängerzone war kaum noch Betrieb, der zu beobachten war. Trotzdem nippte Isabell gemächlich an ihrem Tee. Sie hatte Anna einen Zwanzig Euro Schein als Bezahlung gegeben und die Bedienung war zurück zur Kuchentheke gegangen, um den Schein zu wechseln.

Anna packte das Rückgeld zwischen eine Klappkarte, mit der das Café Werbung für sich selber machte, und legte es auf einen Unterteller. Als sie den Teebecher abräumte, stellte sie den Teller auf Isabells Tisch und sagte:
„Auf Wiedersehen.“

Dann ging sie zurück an die Theke. Isabell öffnete die Karte, um das Wechselgeld zu entnehmen. Als sie die Münzen fortnahm, entdeckte sie die Fotographie. Es war das Abbild eines Aquarells auf einer Staffelei und es ähnelte dem Bild, welches sie Anna gegeben hatte. Aber es war nicht identisch. Es waren Details, die sie wiedererkannte und auch, dass mehr Schatten um dem Auge lag.

Isabell wandte sich um. Anna stand hinter der Kuchentheke und putzte Kaffeetassen; aber sie sah dabei zu der Dame hinüber. Isabell nickte ihr zu und strich mit der Hand über das Bild. Anna nickte zurück und fühlte, dass es richtig gewesen war.


Die Knospen an den Bäumen waren noch zart. Doch sie kündigten den Frühling an. Er schien milder zu werden als letztes Jahr. So kam es Anna wenigstens vor. Doch letztes Jahr war sie auch nicht in der Großstadt. Dort sollte es immer ein wenig wärmer sein, als auf dem Land. Nun, das konnte Anna nicht beurteilen, dafür war sie erst zu kurz hier. Doch immerhin hatte sie bereits bemerkt, dass es betriebsamer zuging.

In ihrem Café, in dem sie nun bediente, gab es kaum eine Minute zum Verschnaufen. Immer kamen Studenten herein. Die Universität lag zu nah, aber das war auch Annas Absicht gewesen. Nun malte sie nicht mehr während ihrer Arbeitspausen. Den Skizzenblock lag zu Hause in ihrer Studentenwohnung.

Hier kellnerte sie ausschließlich an den Wochenenden und manchmal nur in der Woche. Gerade so oft, dass sie genug Geld verdiente. Das reichte ihr. Wenigstens im Augenblick. Eine Kunststudentin brauchte nicht so viel.

Eine Dame kam in das Café und setzte sich an einen der Tische am Fenster, von dem aus sie hinaus auf die Betriebsamkeit von Charlottenburg gucken konnte. Sie kam jedes Wochenende und Anna wusste, dass sie einen Milchkaffee bestellen würde. Die Dame sah aus wie eine Carmen. Als die Bedienung ihr den Kaffee brachte, wandte Carmen sich um und lächelte sie an. Anna lächelte zurück.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Letztes Jahr in Bad Pyrmont"

Re: Letztes Jahr in Bad Pyrmont

Autor: axel c. englert   Datum: 30.11.2014 14:12 Uhr

Kommentar: Lieber Mark!
Lieber Mark!


Lieber Mark!

Diese Geschichte ist (erneut) sehr gut geschrieben!
(Nur „Frau Krause“ – wär’ besser unterblieben…)

LG Axel

Re: Letztes Jahr in Bad Pyrmont

Autor: axel c. englert   Datum: 30.11.2014 14:14 Uhr

Kommentar: Gleich dreimal plötzlich „Lieber Mark!“
Das Neu – Kommentar – Schreiben – etwas stark….

LG Axel

Re: Letztes Jahr in Bad Pyrmont

Autor: Mark Gosdek   Datum: 30.11.2014 14:16 Uhr

Kommentar: Haha, Axel, ich habe drauf gewartet! Aber Frau Krause schleicht sich doch überall ein, wie ich es von Dir gelernt habe :-) LG Mark

Re: Letztes Jahr in Bad Pyrmont

Autor: Uwe   Datum: 30.11.2014 18:51 Uhr

Kommentar: "Sagte sie „Vielen Dank“, klang ihre Stimme wie der Samtbezug des Caféhausstuhls...", und dann noch Frau Krause, aber auch dein zarter Text gefällt mir!
(Aber es war mal ganz, ganz richtig, den Axel ein bissel zu ärgern! Warum? Nun, weil, weil, äh, weil - halt einfach so!)

Re: Letztes Jahr in Bad Pyrmont

Autor: Mark Gosdek   Datum: 01.12.2014 4:57 Uhr

Kommentar: Danke, Uwe. Ich konnte einfach nicht widerstehen :-) LG Mark

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