Plötzlich ist er wach. Das Ticken der Uhr auf dem Nachttisch weckte ihn und nun, nachdem er es hört, kann er es nicht mehr ignorieren. Wie eine gewaltige Pfeilattacke trifft jedes Sekundenplick seine Ohrmuschel und zerfetzt das Trommelfell. Der Angriff kommt so überraschend, dass das feine Barrikadengaze fast ohne Widerstand platzt und der Schmerz den verborgenen Tunnel ungehindert überrennen kann.
Marcin rollt sich auf die Seite und presst das Kopfkissen auf sein Ohr. Das Surren der Pfeile klingt nun dumpfer, doch bestimmt nicht wie die Bewegung eines Uhrzeigers. Eher wie ein Rammbock, der die Festungsmauer des Gehörmuskels durchsprengen wird. Die Wucht des Sauruskopfes der Ramme dröhnt im Kopf nach und vibriert in den Schläfen, dass der gesamte Schutzwall zu zerbersten droht.
Auch der Rücken schmerzt. Die erste Angriffswelle hat ihre Spuren hinterlassen. Marcin wälzt sich auf die andere Seite und drückt das Kissen auf das bislang sichere Ohr, doch der Rammbock nimmt neuen Schwung und kracht unbarmherzig auf den noch unbeschädigten Muskel.
Neben Marcin liegt Vera und tut so, als ob sie schläft. Dabei hat sie sich längst auf die Seite des Feindes geschlagen und pfeift Marcin ihr sirrendes Schnarchen ins Gesicht. Marcin stößt sie genervt mit dem Fuß an. Vera brummelt etwas wie „Attacke!“ und pfeift weiter auf die Nase des Mannes.
Marcin schleudert das nutzlose Kopfkissen aus dem Bett. Sofort stellt die Ramme ihre Arbeit ein. Stattdessen schwirrt ein weiterer Pfeilhagel heran. Unter den sicheren Augenluken heraus lugt Marcin auf den Angreifer. Halb Vier in der Nacht. Tagsüber traut der Feind sich nicht, die trutzige Festung des Mannes anzugreifen. Dann beobachtet er sie nur aus heimlicher Entfernung. Zaghafte Attacken versinken im Burggraben der Pflichten, dass Marcin sie nicht einmal bemerkt. Nun aber, im Schutz der Nacht, hat der Feind eine gewaltige Streitmacht um sich versammelt. Marcin will sie ignorieren, doch das kann er nicht. Nun rieselt kein Uhrensand, nun wirft die Steinschleuder Felsbrocken.
Marcin stemmt seinen schmerzenden Rücken auf und streckt die Füße aus dem Bett. Das zerknitterte Lacken knistert wie Buschfeuer an der Festungsmauer, dass die Ohrhaare zu verbrennen drohen. Marcin schlüpft in die Pantoffel und wuchtet sich hoch. Die Bettfedern knarren, als bersten die Scharniere des Burgtores. Die Sohlen der Hausschuhe schleifen über den Holzboden. Wie Assassine schlängelt sich das Kritteln den Körper zum Thronsaal empor. Zum Abschied Vera pfeift die Siegesfanfare hinter ihm her.
Zerschlagen schlurft er ins Wohnzimmer. Er braucht ein wenig Waffenruhe und frische Luft, dass der Kampfgestank sich verzieht. Marcin wankt zum Fenster. Vorsichtig öffnet er es und späht auf die fast noch einsame Straße. Vereinzelt prescht eine Kavallerie Reifen im gestreckten Galopp über den schmutzigen Asphalt. Matsch spritzt empor und schwingt sich kreischend auf die Belagerungstürme. Unwillkürlich weicht Marcin zurück und fällt in den Sessel. Das Leder quietscht, die Festungsmauern drohen zu brechen und gleichzeitig surrt ein neuer Angriff vom Kaminsims herüber in sein Gehör.
Die Muschel hängt bereits in Fetzen, der Körper ist zerschlagen. Ein Piepsen schleicht sich ein. Kriegsgeschrei der Belagerer. Aus tausend Kehlen, fern und immerfort. Nun bereiten sie den Sturm vor, denkt Marcin. Die Kraft der Verteidiger schwindet. Erschöpft fliehen sie in alle Glieder und lassen den Herrscher allein in seinem Thronsaal zurück.
Marcin schließt die Augen. Sogleich verstärkt sich das Kriegsgeschrei der Angreifer und die Geschosssalven lassen nicht nach. Die getreuen Vasallen drängeln sich in den Schutz des verkrampfenden Körpers. Panik vor dem Schlussangriff durchflutet die Festung.
Marcin schaltet den Fernseher ein. Das flimmernde Bild schießt Brandpfeile auf die Fenster des Thronsaals ab. Die Augen flackern, die Ohren brennen. Mit letzter Kraft schafft es Marcin, den Apparat wieder auszuschalten und der Angriff bricht in sich zusammen. Wenigstens eine Kompanie des Feindes konnte er besiegen.
Doch nun folgen wütende Attacken der Bogenschützen vom Kaminsims her und Marcin ist zu schwach, sie abzuwehren. Er lauscht hinüber in das Schlafzimmer. Auf Veras bedrohliches Pfeifen, das ihn schon erwartet. Marcin rutscht tiefer in den Sessel. Das Leder quietscht nun quälend, verbündet sich mit dem Feind auf dem Kaminsims. Marcin kann es nicht mehr ertragen. Die Ohren sind bereits ausgehöhlt, das Trommelfell zerschossen. Er wagt sich nicht mehr zu bewegen und das Ticken wird lauter. Der letzte Sturm auf die Festung hat begonnen und all die Verteidigungstruppen sind geschlagen. Versprengte Vasallen schreien einander etwas zu, flüchten in verkrampfte Muskeln. Marcin weiß, dass er nicht gewinnen kann.
In seiner wachen Müdigkeit tastet er zum Lichtschalter der Stehlampe. Das Knipsen knackt das letzte Burgtor und nun drängeln sich mordlustige Feinde vor dem geborstenen Durchbruch. Die letzten Getreuen aber stehen auf den Zinnen und gerade in dem Augenblick, als der Feind die Festung überrennen will, schütten sie den Kessel heißen Lichts über ihnen aus. Gleißend hell ergießt sich die Masse auf die Bogenschützen und sie stoben auseinander.
Der Lampenschein vertreibt sie, zurück in die Dunkelheit und nur von fern ist ihr Waffengeklirr noch zu hören. Marcin sitzt da und wartet. Fast schon bemerkt er sie nicht mehr. Die Uhr auf dem Kaminsims verstummt und Veras Pfeifen verliert ihre Dominanz. Marcin lauscht und wartet. Und dann schläft er ein.


© Mark Gosdek


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