Es war noch dunkel, als er hinunter zum Kanal ging und seine Angeln aufstellte. Er mochte diesen Teil des Tages. Am Gras klebte der Tau wie vergessene Tränen der Nacht und vom Kanal her konnte man die modrige Kühle des Wassers riechen. Für den Mann war es eine gewohnte Umgebung, sie bot ihm Sicherheit. Um diese Zeit war er noch müde, die Fische aber bissen dann am besten. Er musste nur wach bleiben. Dafür hatte er sich eine Thermoskanne Kaffee mitgebracht. Wenn die Schwimmer der Angeln über die kräuselnden Wellen des Kanals tanzten, setzte der Mann sich auf seinen Campingstuhl und trank den ersten Becher.
Von der gegenüberliegenden Uferseite hörte er die Geräusche des frühen Straßenverkehrs. Sie klangen beruhigend weit entfernt, dass nur ein schwankendes Zischen die Dunkelheit umspülte, welches langsam anhob und sich Sekunden später ins Nichts verlor. Jene Geräusche drangen nicht wirklich bis zu seinem Platz am Kanal vor und dies war einer der Gründe, dass der Mann ihn aufgesucht hatte. Es war ruhig und die Fische bissen.
Für gewöhnlich kamen etwas später am Tag andere Angler. Sie begriffen nicht, dass die Fische im ersten Schein der Sonne ihre tödlichen Absichten erkannten und sich entsprechend zurückhaltend verhielten. Wahrscheinlich trauten die Angler den Tieren diese Intelligenz nicht zu. Fische konnten das viel besser als Menschen, sie ließen sich nicht durch Nebensächlichkeiten verwirren. Sie beschränkten ihre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche, den Köder. Alles andere nahm keinen Einfluss auf ihr Dasein.
Für einen Angler war es wichtig, dieses Verhalten zu kennen. Für Menschen war im Dunkeln alles besser. Sie lenkten die Gedanken vom wahren Kern der Sache ab. Mit dem Sonnenaufgang sanken die Chancen. Die Angler, welche später ihre Ruten auswarfen, ignorierten diesen Nachteil. Der Himmel mochte wissen, warum sie überhaupt hierher kamen! Mit erfolgreichem Angeln hatten ihre Gründe sicher nichts zu tun. Der Mann hingegen, der bereits in der Dunkelheit seine Ruten auswarf, trachtete nach einem Fang. Er wollte die Fische nicht überzeugen, er wollte sie überlisten. Das war das Einzige, was er gelernt hatte und es war wichtig, um wirklich gut zu sein.
Der Mann konnte die später eintreffenden Angler nicht leiden. In seinen Augen übten sie die Arbeit nicht ehrlich aus. Die anderen schienen es zu spüren. Sie setzten sich ein Stück entfernt von ihm, nie direkt daneben. Es war ihm lieb. Zum Kanal kam er nicht zum Reden hinunter.
Der Mann hieß Adam und manchmal fühlte er sich in dieser frühen Stunde am Wasser wie sein erster Namensvetter, bevor Gott ihm eine Rippe entnommen hatte. Sicher glaubten viele Menschen, nur ein schmaler Bach führe durch den Garten Eden und vielleicht hatten sie damit genauere Vorstellungen als er. Für ihn war es immer ein Kanal gewesen und dies eines der wenigen Dinge, bei denen er eine feste Überzeugung besaß.
Das Leben war zu schwierig, um sich grundsätzliche Meinungen leisten zu können. Irgendwie war alles in Bewegung. Wahrscheinlich musste das so sein, doch Adam hatte das Gefühl, alles würde von ihm fortstreben. Er wusste nicht, was er dagegen machen sollte. Manchmal fühlte er sich hilflos. Dann kam er mit seinen Angeln zum Kanal. Er war eine feste Konstante in seinem Leben. Und die beißenden Fische, wenn man früh genug kam. Adam beruhigte dieses Wissen jedes Mal.
Die Sonne kletterte bereits eine Handbreit über den Wipfeln der Platanen auf der gegenüberliegenden Uferseite. Ihre Strahlen trieben wie ein Schwarm Seemöwen auf dem Kanal. Bereits jetzt deuteten sie ihre Kraft an und Adam zog seinen Campingstuhl in den Schatten der Hängeweide, deren Geäst über dem Wasser hing, als suche es den Grund nach Fischen ab. Im Schatten war es immer noch so kühl wie in den nächtlichen Morgenstunden, als Adam seine Angeln ausgeworfen hatte. Nun dachte er wieder an Kaffee. Er schraubte die Thermoskanne auf. Es war gut, so lange zu angeln, wie er noch etwas zu trinken hatte. Wenn er sparsam damit umging, würde er noch ein paar Stunden reichen, wenigstens so lange, bis die Fische bissen.
Doch vorher kam Gabriele. Sie wusste, dass er diese Stelle am Ufer bevorzugte. Ihr beider Vater hatte ihm diesen Ort vererbt. Er nahm den Jungen seit frühester Kindheit mit und damals war auch Gabriele gelegentlich dabei. Aber sie fand nicht solch ein Vergnügen daran wie ihr Bruder. Sie saß nicht gerne herum. Auch jetzt blieb sie neben dem Campingstuhl stehen und sah in die glitzernden Sonnenperlen auf dem Wasser.
„Beißen sie?“ fragte Gabriele.
„Noch nicht“, sagte Adam.
„Wird schon“, entgegnete sie und entschied dann doch, sich neben ihren Bruder ins Gras zu setzen.
Gabriele war ein wenig jünger als Adam, kaum, dass es jetzt noch einen Unterschied machte, da er auf die vierzig zuging. Früher hatte er sie natürlich Gabi genannt, aber irgendwann war er zu der Überzeugung gekommen, dass die Abkürzung des Namens ihr nicht mehr gerecht wurde. Die Verstümmelung ihres Namens beschrieb sie nicht wahrhaft. Es war einfach unvollständig und das konnte man von Gabriele am wenigsten behaupten. Als Mensch und als Frau.
„Was machst du hier?“ fragte Adam, aber er sah seiner Schwester nicht an.
„Ich wusste, dass du hier sein würdest“, sagte Gabriele.
Das war keine Antwort, aber immerhin richtig und Adam honorierte es mit Schweigen. Für das Angeln war es unabdingbar.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte Adam nach einer Weile.
Er stand auf und ging hinunter zu seinen zwei Angelruten. In regelmäßigen Abständen war es nötig, die Köder zu überprüfen. Manchmal lösten sie sich vom Haken und dann war es fast aussichtslos, dass ein Fisch anbiss. Adam war ein zu erfahrener Angler, um das nicht zu wissen.
„Warum sollte nicht alles in Ordnung sein?“ fragte Gabriele, die auf dem Gras sitzen geblieben war und ihren Bruder von dort aus beobachtete, wie er zunächst die Leinen einholte und kurz darauf mit ausholendem Schwung zurück in den Kanal warf. Sogleich formte das Wasser kleine Kreise, die sich nach außen zu Wellen vereinten, sobald die Schwimmer auftrafen.
„Ich meine ja nur“, sagte Adam, aber erklärte es nicht weiter.
„Wollte nur sehen, was du so machst“, sagte Gabriele.
Adam kam zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Die Schwimmer der beiden Angeln dümpelten auf dem Wasser. Es gab nichts zu tun.
„Willst du einen Kaffee?“ fragte Adam und hielt seiner Schwester die Thermoskanne entgegen. Gabriele schüttelte den Kopf. Sie zog ihre Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie.
„Das hatte nichts zu bedeuten“, sagte sie.
„Alles hat nichts zu bedeuten“, entgegnete Adam.
„Du weißt schon“, sagte Gabriele.
Adam wusste es tatsächlich. Er war ja dabei gewesen. An dem Abend vorher. Ebenso wie Gabriele und all ihre Freunde. Nun, es waren eher die Freunde der Schwester. Adam besaß nicht so viele. Aber was machte das schon für einen Unterschied?
„Wir kennen uns alle so lange“, sagte Gabriele.
„Sicher“, bestätigte Adam.
Er streckte sich aus und blinzelte in die Sonne. Noch ein paar Stunden, dann würde sie alt werden und ihre Strahlkraft verlieren. So lange würde Adam jedoch nicht am Kanal bleiben. Er wollte sie nicht dabei beobachten. Sie hatte es verdient, in Würde zu versinken. So wie seine Erinnerungen an den vergangenen Abend. An alle Abende vorher. An Romana.
Gabriele stand auf und trat hinunter ans Ufer. Dort gab es kaum noch Gras. Die Halme waren zertreten und der Boden hatte sich in feuchten Matsch verwandelt. Gabriele trat mit den Zehenspitzen darauf und hörte jenes schmatzende Geräusch, als die Erde unter dem Druck der Schuhsohle auseinander wich. Es war fast windstill und nur ein zarter Hauch strich über das Wasser, der ihre Haut streichelte, aber nicht die Kraft besaß, ihr Haar zu zerzausen.
Lang genug wäre es dafür gewesen. Nicht so wie bei Romana, die es so kurzgeschnitten trug, wie eine Herrenfrisur. Sie benötigte nur eine Bürste. Manchmal machte sie sich einen Spaß und setzte eine Perücke auf. Grün wie das Gras oberhalb des Kanals oder blau wie Lagunenwasser.
Adam mochte es am liebsten, wenn sie ihr natürliches Haar nicht verbarg, auch wenn er vermutete, dass dieses Schwarz von ihr eingefärbt worden war. Romana konnte es nicht wissen, er hatte es ihr nie gesagt.
Noch immer stand Gabriele am Ufer und sah über die Einsamkeit des Kanals. Adam schraubte die Thermoskanne auf und goss sich erneut einen Becher voll. Kaffee machte ihn wach und kontrolliert. Er brauchte diesen Zustand. Er machte ihn unverwundbar. Am vorangegangenen Abend hatte er nicht daran gedacht. Das war einfach Pech gewesen, aber daraus musste er lernen.
Gabriele hatte ihn gefragt, ob er mit in die Stadt kommen wollte, zusammen mit ihrer Clique. Zunächst hatte Adam abgelehnt. Es waren zu viele Menschen und er wusste nie, was er sagen sollte. Schließlich aber konnte seine Schwester ihn doch überreden, immerhin war es eine Abwechslung. Bereits in der ersten Kneipe hatten sie begonnen, Bier zu trinken und Adam schloss sich nicht aus. Das tat er nie, auch wenn er trotzdem nicht richtig dabei war. Vielleicht bemerkte es niemand. Sie tranken weiter und dann saß er plötzlich neben Romana.
An diesem Abend trug sie keine Perücke und Adam mochte es so. Durch das Bier war er inzwischen unkontrolliert genug, um es ihr auch zu sagen. Romana nahm es als Kompliment und lächelte.
„Ehrlich gesagt, mag ich es so auch am liebsten“, sagte sie.
Adam freute sich über ihre Antwort und plauderte vor sich hin. Er hatte vergessen, dass er nie wusste, was er sagen sollte. Die Frau mit den wundervollen Haaren ließ sich darauf ein und das war mehr, als er jemals erwartet hatte. Irgendwann fragte Adam sie, ob sie nicht einmal ausgehen sollten.
„Warum nicht?“ hatte Romana entgegnet.
Ja, warum eigentlich nicht? Warum nur hatte er sie nicht früher gefragt? Es war doch so klar. Adam war es in diesem Augenblick bewusst geworden und das genügte. Vorerst. Es war ein wunderbarer Abend. Alles andere würde sich schon finden.
Gabriele wandte sich vom Ufer ab und kam zurück zu ihrem Bruder. Dicht vor ihm blieb sie stehen, dass ihr Körper einen Schatten auf sein Gesicht warf.
„Ich gehe dann wieder“, sagte sie.
Adam hob den Kopf und sah zu ihr empor. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Trotzdem nickte er diesem verschwommenen Etwas in der Korona der Sonne entgegen.
„Ja, sicher“, sagte er.
Als die Schwester an dem Campingstuhl vorbeiging, strich sie mit den Fingern zart über seinen Arm. Adam sah ihr nicht nach. Das tat er nie. Ebenso wenig, wie er es bei Romana getan hatte, als sie später am Abend mit Vince abgezogen war. Vielleicht wollte sie ihm ihre Perücken zeigen.
Eine Weile saß Adam in seinem Stuhl und trank seinen Kaffee. Bald schon würden die ersten Spaziergänger vorüber kommen; dann wollte er seine Sachen bereits eingepackt haben.
Er stellte den Becher neben sich auf den Boden und stand auf. Unten, im Matsch des Ufers, hob er eine Angel aus der Verankerung und holte die Leine ein. Der Köder hing immer noch am Haken.
„Heute beißen die Fische nicht“, murmelte Adam vor sich hin.
Dann warf er die Leine, soweit es ging, zurück in den Kanal. Er würde noch eine Weile warten.


© Mark Gosdek


4 Lesern gefällt dieser Text.








Kommentare zu "Heute beißen die Fische nicht"

Re: Heute beißen die Fische nicht

Autor: axel c. englert   Datum: 20.02.2016 17:52 Uhr

Kommentar: Die Geschichte ist ein guter Fang!
Sehr überzeugend sie gelang!

LG Axel

Re: Heute beißen die Fische nicht

Autor: Mark Gosdek   Datum: 20.02.2016 20:00 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Axel. Ich hab´s einfach mit warten. LG Mark

Re: Heute beißen die Fische nicht

Autor: possum   Datum: 21.02.2016 7:41 Uhr

Kommentar: Lieber Mark, gerne eine Weile hier angehalten! Danke dir! Liebe Grüße!

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