Lisa

Es war heiß. Der Stein strahlte ein seltsames Licht ab. Er glühte in der Sonne. Jeder normale Mensch wäre um diese Uhrzeit nicht draußen. Aber sie war kein normaler Mensch. Sie blinzelte. Das Licht blendete trotz ihrer riesigen Sonnenbrille. Sie senkte den Blick und wanderte weiter, höher. Sie blickte sich um, speicherte jedes Detail, jedes Stück Mauer, jede Verzierung, jede Fließe, für die dieser Ort so berühmt war. Sie brauchte nicht lange, dann kam sie zu der kleinen Aussichtplattform. Sie schlängelte sich den dünnen weg hinunter. Jetzt lief sie den Stein entlang und war schließlich auf der engen Stelle. Hier hatten vielleicht fünf Leute Platz. Dafür sah man hinunter in das Tal. Sie lehnte zurück und wartete.
Sie blickte auf die Uhr. Es war eine Minute vor zwei. Sie zündete sich eine Zigarette an. Sie sog den Rauch ein. Das beruhigte sie ein wenig. Es wurde zwei. Jemand hustete. Sie blickte auf. Um den Stein kam ein Mann. Er hatte weißes Haar. Sie stockte. Ihr Herz begann zu rasen. Der Mann stellte sich neben sie. „Zigaretten können töten“, erklärte er ihr in schlechtem Portugiesisch. Sie zuckte mit den Schultern. Dann drückte sie die Zigarette aus und flippte den Stummel über die Brüstung. „Wer glaubt schon diesen Schwachsinn?“, entgegnete sie ihm in Englisch. Sie war überzeugt, dass er Englisch viel besser konnte als Portugiesisch. „Ich hatte einen Freund. Der hat nie geraucht! Trotzdem hat er Krebs bekommen. Ich meine, wir sterben doch alle. Wir sterben jeden Tag!“ Sie blickte zu Boden. Er stellte sich neben sie. „Ich hatte mal eine Freundin. Für die war das Leben das Wichtigste. Sie wusste, wie man lebte. Sie konnte verrückt sein. Sie hat alle Sachen mitgemacht, egal wie an den Haaren herbeigezogen sie waren. Und sie hat mir die Welt versprochen. Jeden einzelnen Ort! Sie wollte alles sehen, riechen, schmecken.“ „Und wo ist sie jetzt? Kommt sie vielleicht gleich um die Ecke?“ „Nein, sie ist gestorben! Es war eine Gasexplosion. Sie ist in Flammen aufgegangen. Pulverisiert! Man hat quasi gar nichts mehr von ihr gefunden!“ Sie blickte zu ihm auf. Er starrte sie an. Vor ihren Augen sank er in sich zusammen. Sekunden verstrichen. Dann küssten sie sich. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. Sie klammerte sich an ihn. „Du lebst! Du lebst!“ Das war das einzige, an was sie denken konnte. Sie begriff es nicht. Aber er lebte. So viele Monate waren verstrichen und er lebte noch immer. „Hem!“ „Ich heiße jetzt Herbert und komme aus Deutschland!“ „Und ich bin Lisbeth!“ „Ich weiß!“ „Du lebst!“ Er tippte sich gegen die Schläfe. „So ein kleiner Tumor bringt einen nicht um, vor allem, wenn er gar nicht real ist!“ „Nicht…“ Sie begriff das nicht. Er hackte ihren Arm bei ihm unter und zog sie mit sich. Aber sie hatte sowieso nicht mehr viel begriffen, seit ihr Gerd den falschen Reisepass und das Flugticket in die Hand gedrückt hatte. Seitdem waren etliche chaotische Tage und Wochen vergangen. Sie war von Schließfach zu Schließfach gehetzt, hatte dreimal die Identität gewechselt und so viele andere Sachen gemacht. „Komm mit! Ein gemeinsamer Freund hat dir einiges zu erklären!“ „Ich verstehe das nicht! Du lebst! Ich verstehe das nicht!“ „Ich hatte nie einen Tumor. Es geht mir gut, zumindest im Moment. Sie haben mich belogen. Sie haben dich belogen. Sie haben uns alle belogen und sie haben die Menschen da draußen belogen. Das Ganze ging so weit, bis jemand die Katze beim Schwanz packte und zurück gelogen hatte. Jemand, von dem man das nie erwartet hätte.“ Er zuckte mit den Schultern auf seine typische Art. Sie begriff es noch immer nicht. Aber sie hatte gelernt Sachen zu akzeptieren. Vielleicht würden später Erklärungen kommen, sogar sehr sicher. Aber jetzt war es egal. „Du siehst gut aus: braungebrannt. Und du hast zugenommen. Jetzt bist du kein Magermädchen mehr!“ „Ja, hmmm! Hat sich heraus gestellt, dass die Medikamente schuld waren, dass ich nie irgendetwas angesetzt habe oder mich weiterentwickelt habe.“ „Du warst eine hübsche Raupe. Aber als Schmetterling gefällst du mir noch besser!“ Sie lächelte über das Kompliment. „Und wohin gehen wir von hier?“ „Nach Wien! Und danach nach Rom und Cairo und wo auch immer hin!“ „Wien, wieso Wien?“ „Ich habe gehört in Wien gibt es Butterkremtorten!“ „Butterkremtorten? Klingt gut!“, meinte sie. „Klingt gut!“, bestätigte er.


© lerche


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Kommentare zu "Medus - Epiloge"

Re: Medus - Epiloge

Autor: Homo_Ingenuus   Datum: 03.01.2016 22:54 Uhr

Kommentar: Was sehr irritierend wirken kann, sind solche Sätze, die stetig mit "Sie..." beginnen. Vorallem, wenn diese aufeinander folgen.
Sie tat dies. Sie ging dort hin. Sie machte jenes. Dann tat sie dies. Sie blickte auf...
Weißt du wie ich das meine? Beim Lesen kommt, zumindest in meinem Falle, keine Spannung auf, denn der Lesefluss wirkt unausgeglichen und an sich nicht ästhetisch.
:) Versuche dich einmal in Sachen unterschiedliche Satzbauweisen, das könnte helfen, dem Text mehr Schliff zu verleihen.

viele Grüße
Ingenuus

Re: Medus - Epiloge

Autor: lerche   Datum: 06.01.2016 21:22 Uhr

Kommentar: Lieber Ingenuus,

vielen Dank für den Hinweis.
Ich weiß, was du meinst. Es ist mir nur bisher noch nicht so aufgefallen.

Muss noch viel mehr auf solche Sachen achten...

Gruß,
lerche

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