Lisa

Sie stand vor seiner Tür, atmete tief durch. Er konnte einfach so zu ihr kommen, also konnte sie es auch. Sie schob die Tür auf und tauchte ein in seine Welt. Es war das erste Mal, dass sie in einem anderen Zimmer war, außer dem von Chris. Sie hatte kahle Wände und Kälte erwartet. Aber es war nicht kahl, ganz im Gegenteil. Überall waren Regale mit Büchern. Es war fast erdrückend. Hatte er die alle gelesen? Sie war überzeugt und gleichzeitig verstand sie es nicht. Wozu das ganze Papier? Sie las mit ihrem headset. Es war genau auf sie eingestellt und sorgte dafür, dass die Seiten nicht flackerten und sie alles deutlich erkennen konnte. Papier zu verwenden war doch eine Verschwendung. Trotzdem war hier alles voll damit. Es war wie ein Wald. Sich wundernd ging sie langsam weiter. Sie drehte und starrte. Die Reihen an Büchern rissen nicht ab, selbst als sie um die Ecke kam. Hem saß zusammengesunken auf seinem Sessel. Sein Oberkörper war nackt. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht. Sie waren grau und fettig und hässlich. Hem war ein Antikörper zu Chris. Chris war verspielt, hübsch und voller Energie. Hem wirkte dunkel, ernst und das Leben schien aus ihm heraus zu laufen. Er schaute nicht auf, als sie kam. Er hing über seinem Buch, blätterte alle paar Sekunden. Sie räusperte sich. Er blickte nicht auf. Jetzt sah sie sein Gerüst auf dem Bett liegen. Sie schob es ein Stück weg und setzte sich neben ihn. „Meinst du, jetzt bin ich dir ausgeliefert. Jetzt kann ich nicht mehr weglaufen!“ „Vielleicht solltest du versuchen ohne es zu gehen!“ Endlich, endlich blickte er sie an. Er lächelte ein trauriges Lächeln. Aber seine Augen waren klar und grün. Er schob das Buch vorsichtig, fast zärtlich, auf den Tisch. „Was willst du hier?“ „Vielleicht will ich Sex mit dir haben!“ „So ein Blödsinn! Du hast ja noch etwas an!“ Sie stieß ihn an. Er kippte fast vom Stuhl. „Vorsichtig! Ich bin nie so verletzlich, wie jetzt!“ „Wieso hast du es dann abgenommen?“ „Weil es mich einengt! Weil es mich ständig daran erinnert, wer ich bin. Weil es mir Schmerzen bereitet!“ Sie packte das Folterinstrument und warf es auf die andere Seite des Raumes. Es machte sie plötzlich so wütend. Sie gaben alles. Sie schafften das Unmenschliche. Sie retteten Leben. Und das war alles, was sie dafür bekamen: ein kleines Zimmer, eine Höhle, und Schmerzen und die Aussicht auf einen baldigen Tod als Erlösung. Sie hasste das. Sie hasste, dass sie Hem nicht helfen konnte. Sie stellte sich vor ihm. Seine Hand fuhr zu ihrer Hüfte und hielt sie fest. Jetzt zog sie ihr Hemd aus und warf es zu seinem Gerüst. „Ich bin hässlich, wie eine Raube!“ Er küsste ihren Bauchnabel. „Und ich bin ein Wurm! Aber ich darf dich trotzdem lieben!“ Er zog sich an ihr hoch. Sie kippten gemeinsam auf das Bett. Er rutschte nach unten zu ihrem Hosenbund. Sein Rücken erhob sich in einen unmöglichen Bogen. Sie starrte. „Willst du noch mehr sehen? Willst du sehen, was dieser Wurm noch alles kann?“ Seine Augen blitzten. „Nur… nur wenn es dir nicht wehtut!“ Mit einem Seufzer ließ er sich wieder sinken und kam auf ihrer Brust zu liegen. Dann schloss er die Augen und war für eine Zeit lang einfach nur still.
„Was hast du an Chris gefunden?“ „Er ist süß und er ist hübsch!“ „Komm schon, du bist nicht so oberflächlich!“ „Und wenn ich es doch wäre!“ „Dann wärst du nicht hier, bei mir!“ Ihre Hände fuhren in seine fettigen Haare. Nein, Hem war weder hübsch noch attraktiv. Er hatte kein Charisma. Er war der, der in der Ecke saß und den man übersah. Er war ein Wurm. Trotzdem war da etwas, was sie anzog. „Als ich gekommen bin, war Chris der einzige, der sich um mich gekümmert hat, der mich eingeladen hat, der für mich da war, auf seine Art und Weise! Der Rest hat sich dann irgendwie ergeben.“ „Es tut mir leid“, flüsterte er in ihren Bauch. Sein Kopf rieb an ihrem Körper. „Und was findest du an mir?“ Natürlich musste diese Frage kommen und es war eine sehr unfaire Frage, empfand sie. „Das Vertrauen, was du in uns weckst, und deine Fantasie und das du alles tust, was notwendig ist ohne Diskussion.“ „Ich habe keine Fantasie!“ „Doch, das hast du! Gehst du von mir runter, du bist schwer.“ Er rollte von ihr. Jetzt lächelte er ein wenig. Das war besser. Dann deutete er auf eines der Regale. „Kannst du das Buch dort oben hinunter holen. Das mit dem schwarzen Rücken!“ Sie stand auf. Sie griff nach dem Buch, das er meinte, und er nickte zur Bestätigung. Sie holte es herunter und legte es ihm auf das Bett. Er begann darin zu blättern. Es war mühsam, denn die Seiten waren groß und er konnte sich nicht richtig aufrichten. „Wieso hast du es nicht wieder angezogen, als ich ins Zimmer gekommen bin? Du hattest genug Zeit.“ „Ich vertraue dir!“ Sie begann sich aus zu ziehen, so dass sie nackt vor ihm stand. Bei Chris hätte sie das nie gekonnt. Aber mit Hem war das völlig anders. Sie war ihm gleichwertig. Vor ihm brauchte sie sich nicht für ihren hässlichen Körper zu schämen. „Was siehst du jetzt? Die Raube oder den Schmetterling?“ Er betrachtete sie von oben bis unten. Sie wusste, er verurteilte ihren Körper nicht, für den sie genauso wenig konnte wie er für seinen. Er überlegte sich seine Antwort gut. „Willst du denn ein Schmetterling sein? Willst du hinausfliegen in die Welt auf deinen zarten Flügeln? Es ist eine Welt, die dir vielleicht nur Verderben bringen wird! Du bist nicht auf sie vorbereitet!“ Sie wusste das alles. Sie wusste, dass sie nie hier rauskommen würde. „Ich würde sie so gerne sehen, die Träume, die du mir erzählt hast.“ Er schlug das Buch zu und schob es auf die Seite. Dann winkte er sie heran. Sie stieg über ihn hinweg, beugte sich zu ihm herab und küsste ihn. Er zog sie an sich und sie spürte seinen warmen Körper. „Bin ich jetzt deine Freundin?“ „Liebling, ich sterbe. Daran kann niemand etwas ändern.“ „Ich will nicht, dass du stirbst!“ „Ich will, dass du frei bist!“ Beides waren Dinge der Unmöglichkeit. Er fuhr mit den Händen zu ihrem Gesicht und schob die Haare zur Seite. „Wenn du willst, kann ich dich vielleicht noch retten!“ Und bevor sie etwas erwidern konnte, küsste er sie. Danach waren Worte irgendwie egal.


© lerche


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