Lisa

Es war dunkel. Das Hochhaus war verfallen und voller Staub. Ihre Hände verkrallten sich in einer Lücke, wo die Decke teilweise herunter gebrochen war. Ihre Hand bekam einen Stahlträger zu fassen. Sie zog sich hoch und schob ihre Beine darüber. Die Etage darüber war genauso zerstört, wie die darunter. Sie schluckte. Sie war in einem Kinderzimmer. Kaputtes Spielzeug knackte unter ihren Füßen. Die Spitze einer Feuerwehrleiter konnte sie sogar durch ihre Sohlen spüren. Das sollte doch ein Bürohochhaus sein. Aber scheinbar gab es mehr als nur das. „Irgendetwas riecht hier komisch!“ Sie trat in den Gang hinaus. Dahinter war die Küche. „Kannst du es näher beschreiben?“, fragte Hem nach. Sie schüttelte den Kopf, selbst wenn er es nicht sehen konnte. „Da hinten liegt jemand!“ „Tod oder lebendig?“ „Kann ich nicht wirklich sagen. Meine IR-Sicht ist nicht gut!“ „In Ordnung! Versuch deine Körpertemperatur zu senken. Dann sollte es leichter gehen.“ Sie nickte und trat zurück, wo es weniger roch. Der Geruch irritierte sie. Chris wäre in der Zwischenzeit schon dreimal ausgezuckt. Hem war ganz ruhig. Das war angenehm. Er sagte ihr ihre Körpertemperatur durch. Sie näherte sich 35°C. Bald würde sie aufhören müssen. Langsam wurde das Bild klarer. „Kalt! Tod!“ „In Ordnung! Weg hier! Der Geruch gefällt mir nicht. Kannst du die Todesursache erkennen?“ Sie schärfte ihren Blick. „Sie hat so rote Flecken im Gesicht. Kein Blut!“ „Raus hier!“, schrie es auf der anderen Seite. Sie gehorchte sofort. In der nächsten Sekunde war sie durch die Wohnungstür. Überall lagen Holzsplitter. „Rechts!“ Sie folgte Hems Anweisungen ohne nachzudenken. Er hatte den Plan des Gebäudes von bevor es halb zusammen gebrochen war. Sie stockte still. „Hier geht’s nicht weiter! Das Stiegenhaus ist tot!“ Sie blickte den langen leeren Schacht hinauf. Die nächsten fünf Stockwerke gab es keine Stiegen mehr. Verdammt! Sie atmete ein paar Mal tief durch. Dann begann sie ihren Körper zu normalisieren. „Was war das vorhin?“ Sie tastete sich ab und streifte die letzten Splitter von ihr hinunter. „Kohlenmonoxid. Du hast nur einen leichten Filter! Der ist schnell voll! So was ist total selten. Ich frage mich, wieso sie es überhaupt einbauen.“ „Scheiße! Woher weißt du das?“ „Ich mach das nicht erst seit gestern! Kannst du deinen Regenerationsbatch durchfahren. Dann suche ich dir einen Weg weiter nach oben!“ Sie machte ein paar Schritte vom Schacht weg. Der Boden unter ihr schwankte ein wenig. Sie hielt die Luft an. Irgendwo hörte sie es knacken. „Verdammt!“ Der Boden begann nach zu geben. „Wohin? Jetzt!“ Bevor Hem noch irgendetwas sagen konnte, war sie schon ein gutes Stück weggesprintet.
Ihre Haare waren voller Staub. Sie lehnte in einer halbwegs sicheren Stelle und atmete tief durch. Ihr Körper war voller Adrenalin. Ihre Finger tasteten ihre Ausrüstung ab. „Hem! Erzähl mir etwas!“ „Was soll ich dir sagen?“ „Irgendetwas! Meine Knie zittern. Nicht so lustig, wenn der Boden unter einem weg bricht! So eine Scheiße!“ „Du machst das gut. Ich such dir einen Weg nach oben. Was hältst du von Liftschachts?“ „Was?“ „Du hast doch Kletterzeugs dabei! Liftschachts, sind normalerweise extra verstärkt. Da könntest du sicher nach oben kommen!“ „Chris hat mich noch nie so etwas hochgejagt!“ „Chris ist fantasielos! Außerdem kann sein, dass unsere Verbindung abbricht!“ „Was?“ „Willst du es probieren? Sonst wird es schwierig!“ Chris hätte sie nie gefragt. Chris hatte sie immer nur geschickt. Sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Aber es war eine Möglichkeit. In diesem verdammten Haus war sowieso alles falsch, was man tat. „Wie bekomme ich die Tür auf!“ „Gut!“ Sie konnte ihn fast lächeln sehen.
Sie hatte nicht gewusst, dass man Lifttüren auch mechanisch mit wenig Aufwand aufbekam. Hem hatte wirklich so viel mehr Erfahrung als sie. Oben sah es dann wieder ganz anders aus. Aber sie hatte eine Eisenstange gefunden. „Kannst du sagen, wo die Kabine ist?“, fragte sie unsicher. Der Schacht war in beide Richtungen komplett finster. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe hoch. Der Strahl verlor sich schnell in der Dunkelheit. „Schließ dich an!“ Sie fuhr mit dem Schraubenzieher unter das Panel. Das war harte Arbeit. Aber schließlich schaffte sie es mit roher Gewalt. Sie holte die richtigen Kabel hervor. So etwas lernte man an normalen Tagen. Normalerweise war der Kasten mit Leds gefüllt. Jetzt war er tot. Sie schloss die Kabel an. „Gut!“ Während Hem dem Lift Stück für Stück wieder zum Laufen brachte, richtete sie ihre Ausrüstung her. „Zwei Stock über dir. Ich schick sie hinunter. So viel Storm habe ich noch. Soll ich dich hochfahren?“ „Nein, zu unsicher! Den Storm brauch ich vielleicht noch!“ In einem halb eingestürzten Haus wollte sie mit keinem Lift fahren. Und bei der Übung konnte man damit rechnen, dass alles schief ging, was nur schiefgehen konnte. So war sie aufgebaut. Sie hörte, wie sich weiter oben die Kabel zu bewegen anfingen. Es dauerte schier eine Ewigkeit. Aber dann war die Kabine an ihr vorbei. Sie atmete tief durch. Jetzt konnte es losgehen. Sie fixierte ihre Sicherung an den Seilen. „Du musst die ganze Zeit mit mir reden. Damit ich weiß, ob wir Kontakt haben!“ „Was soll ich dir erzählen?“ „Weiß nicht! Irgendwas!“ Sie löste ihre Verbindung zum Lift. „Was hast du gestern gemacht?“ „Spanisch gelernt!“ „Spanisch? Ich dachte, du kannst Spanisch schon!“ „Nein, ich kann Französisch, Deutsch, Russisch, Türkisch, Ungarisch, Mandarin, Hindu…“ „Schon verstanden! Erzähl mir was über Spanisch.“ „Willst du wissen, was im Trainingsbuch steht?“ „Zum Beispiel! Ich klettere jetzt los!“ Hem begann das Trainingsbuch Wort für Wort vor zu sagen. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis. In einem Nachmittag war er locker durch ein Wörterbuch hindurch. Er konnte fließend chinesisch schreiben und lesen. Sie hatte das schon einmal gesehen. Jetzt begann er zu rauschen. Sie stemmte sich höher. Die Verbindung brach endgültig ab. Als sie sich der nächsten Tür näherte, war er wieder da. „Scheiße, hier leuchtet es wie ein Christbaum, weil du kurz weg warst!“ „Hab den ersten Stock!“ „Ich sehe es! Hab dich wieder am Bildschirm.“ „Toll!“ „Was war das letzte, was du noch gehört hast!“ Sie sagte es ihm und er begann von dort an wieder ein zu steigen. Sie waren bei der vierten Lektion angekommen, als sie das richtige Stockwerk erreichte. Ihr Körper war verschwitzt und ihre Arme taten weh. Sie löste ihren Sicherheitsgurt und fixierte sich dafür an der Tür. „Bekommst du die Tür auf!“ „Tut leid! Da bist du alleine!“ „Ohne meiner Muskelkraft wärst du voll aufgeschmissen!“ Sie führte ihren Schraubenzieher zwischen den Spalt. Sobald er irgendwie greifen konnte, stemmte sie sich vor. Mühsam öffnete sie die Tür einen Spalt. Dann konnte sie mit der Metallstange ansetzen. Trotzdem war es Knochenarbeit. Sie wünschte, sie hätte so viel Muskeln wie Sheila. Plötzlich löste sich die Tür. Der Schraubenzieher fiel hinunter. „Scheiße!“ „Was ist?“ „Das war mein Lieblingsschraubenzieher und ich hatte keine Hand frei!“ „Ich bin sicher bei der nächsten Simulation ist er wieder dabei!“ Sie lachte nervös. Dann stürzte sie durch die Tür.
Sie hinterließ eine eindeutige Spur im Staub. Es roch nach alt. Ihre Haut prickelte. Es war nicht mehr weit. „Noch drei Räume! Sei besonders vorsichtig! Kurz vor Schluss haben sie noch Fallen eingebaut!“ „Was!“ Ihre Sinne waren auf höchster Alarmstufe. Ihr Herz pumpte wie blöd. „Hast du das noch nie bemerkt?“ „Ich war zu dem Zeitpunkt immer viel zu sehr damit beschäftigt tot zu sein!“ „Ich war schon fünfmal hier oben mit Gerd oder Sheila!“ „Sheila? Ich dachte, sie macht nur Controlling!“ „Ich bin geklettert!“ „Wow! Ich dachte, Mischen geht nicht.“ Hem hatte so viel mehr Erfahrung als sie. „Es geht verdammt viel! Riechst du wieder etwas? Wie ist der Boden. Den Boden hatte ich noch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Da vorne ist etwas Warmes!“ „Ein Mensch?“ „Vielleicht!“ „Pass auf, er könnte aggressiv sein!“ „Was?“ „Pass auf! Ich bin bei dir!“ Sie wurde vorsichtiger und langsamer. Hems Worte beruhigten sie kein Bisschen. Ihre Infrarot-Sicht war so viel schlechter als die von Chris. „Hast du die Narkosespritze?“ „Was? Wieso?“ „Nimm sie, vertrau mir!“ Unsicher lockerte sie die Spritze. Sie war bei der Übung noch nie einem lebendigen Menschen begegnet. „Ich kann sie jetzt sehen. Es ist ein Mensch! Eine Frau! Sie lebt!“, murmelte sie ins Sprachmikrofon. Sie versuchte zu lächeln und kam vorsichtig auf sie zu. So hatte man es ihr beigebracht. War sie bei Bewusstsein? Die Frau stöhnte. Sie war mit ein paar Schritten bei ihr. Ein erster Blick sagte ihr, dass sie keine besonderen äußeren Wunden hatte. Es gab kaum Blut. Sie wollte ihre Hand auf den Hals der Frau legen um den Puls zu messen. „Fass mich nicht an!“ Sie zuckte zurück. „Die Spritze“, dröhnte Hem in ihren Ohren. „Du bist eine von denen! Ein dreckiger Mutant. Fass mich nicht an! Ich kenn dich vom Fernsehen!“ Sie war im ersten Moment wie paralysiert. „Die Spritze! Die Spritze! Die Spritze…“ Die Frau hob die Hand. Jetzt erkannte sie die Waffe. Was! Doch ihr Körper reagierte instinktiv. Das war kein wirklicher Mensch. Nur eine Simulation! Sie trat zu. Sie hörte Knochen brechen. Sie zuckte zusammen. Es war so real! Gleichzeitig war die Spritze in ihrer Hand und sie rammte sie rücksichtslos in den Oberschenkel der Frau. Dann füllte sie das Narkosemittel ein. Die Frau schrie für unendlich lange Sekunden. Sie kroch weg. Ihre Hände hatten begonnen zu zittern. Sie keuchte und bekam trotzdem nicht genug Luft. „Liz, Lisa! Was ist los? Sag mir, was los ist!“ Sie spürte Tränen ihr Gesicht runter laufen. Ihre Hände zitterten mit ihren Knie um die Wette. Scheiße! „Rede mit mir!“ „Hem?“ „Liz!“ „Hast du einen Kaugummi für mich!“ „Sobald du da draußen bist! Was ist mit der Frau?“ „Sie ist bewusstlos! Ich hab die Spritze verwendet!“ Langsam kroch sie auf die Frau zu. Gehen traute sie sich noch nicht zu. „Sie ist nicht echt, oder? Das ist nicht echt!“ „Das ist eine Simulation! Wir müssen die Dokumente finden und dich da raus bringen. Dann ist es vorbei!“ Sie kroch auf die Frau zu. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Staub trat in ihre Nase. Sie hustete. „Sie hatte eine Waffe!“ „In Ordnung! Hör mir jetzt genau zu: Wo ist die Waffe jetzt. Finde sie!“ Sie kroch über den Boden. Die Waffe war aus der Hand geschleudert worden, als sie zugetreten hatte. Sie hatte eine Spur im Staub hinterlassen. Wieso hatte die Frau eine Waffe? Schnell war sie dort. Hem erklärte ihr, wie sie die Munition entleeren und sie aus dem zerbrochenen Fenster werfen konnte. Ihre Hände zitterten noch immer, aber es ging ihr besser. Sie war froh, dass Hem bei ihr war. Chris wäre keine Hilfe gewesen. Mit Chris wäre sie an einer Kohlenmonoxid Vergiftung sechs Stockwerke tiefer gestorben. Der Puls der Frau war normal. Sie nahm die Spritze wieder an sich und verstaute sie. Vorsichtig griff sie nach der Hand. Sie war blau angelaufen. Sie fühlte nach den Mittelhandknochen. Sie konnte den Bruch in den Knochen deutlich fühlen. Scheiße! Ihr Bein hatte auch ein Problem, der Grund wieso sie überhaupt hier gekauert war und nicht versucht hatte sich zu retten. Der Unterschenkelknochen schien gebrochen. „Verschwende keine Zeit mit Untersuchungen. Sie ist nur eine halbe Stunde bewusstlos. Vorher musst du hier raus!“ Sie nickte. Jetzt stand sie auf. Sie brauchte nur noch durch die Glastür. Dann war sie im Büro. Der Safe war offen. „Hier sind noch mehr Schusswaffen.“ „Entsorg sie! Jede Waffe ist eine potentielle Gefahr für dich.“ Sie dachte nicht nach. Sie tat einfach, was Hem ihr sagte. Nach den Waffen fand sie die Daten. Zwei der DVDs waren zerbrochen. Sie hoffte, dass es keine wichtigen waren. Das gab Abzüge. Aber was hätte sie machen sollen? Dann steckte sie auch noch die Sticks ein. „Lass mich von den Daten eine Kopie machen. Dann sind sie auf jeden Fall gesichert.“ „Mit den DVDs kann ich nichts machen. Aber ich schließ den Rest an.“ Während Hem die Daten sicherte, lief sie wieder zurück. Die Frau war zum Glück noch immer leblos. Das sollte sie ja auch bleiben. Aber sie vertraute dem Ganzen nicht. Sie schnallte die Frau auf ihren Rücken und sicherte sie dort mit ihrer Kletterausrüstung. „Wohin jetzt?“ „Auf das Dach! Der Helikopter wartet! Sei trotzdem vorsichtig.“ Sie wechselte den Stick! „Aber ich hab die Daten.“ „Es ist noch nicht vorbei! Liftschacht oder Treppe?“ „Keinen Liftschacht! Ich kann nicht mit der Frau klettern!“ „Was?“ „Die Frau! Ich hab sie auf den Rücken geschnallt!“ „Spinnst du! Du musst hier raus!“ „Ich kann sie nicht zurück lassen!“ Hem murmelte etwas Unverständliches. Sie begann zu laufen. „In Ordnung! Die Treppe!“ „Die ist nicht stabil!“ „Wir haben keine Wahl!“ Sie nickte.
Sie quälte sich die Treppen hoch. „Schneller! Ich habe ein ungutes Gefühl!“ „Die Frau ist schwer!“ Das Stiegenhaus schwankte. „Es sind nur noch zwei Stockwerke bis zum Dach! Du hast es fast geschafft.“ Hem klang nervös. Sie rannte weiter über die schwankenden Stiegen. Es war furchtbar. Es war die Hölle! Sie merkte eine leichte Erzitterung, eine Spannung in der Luft. Irgendetwas lief gerade schief. Scheiße! Sie rannte los. Ihr Körper mobilisierte die letzten Reserven. Sie sah die Tür des Daches. Sie hörte Hems Stimme wie aus einem Traum. Sie warf sich gegen die Tür. Sie war massives Eisen. Keine Chance da durch zu kommen. Es wurde heiß. Es war wie ein Blitz in ihren Augen. Da war ein Schlüssel. Sie drehte herum und drückte die Klinge hinunter. Eine Druckwelle erfasste sie und schleuderte sie ins Freie. Heiße Luft war überall. Sie brannte. Dann kam sie auf. Sie glaubte, ihr Körper würde brechen. Schmerz explodierte scheinbar überall gleichzeitig. „Liz! Liz!“ Sie blickte hoch. Dort war der Helikopter. Sie hatte es fast geschafft! „Liz! Ich komme!“ Sie brannte. Der Untergrund wackelte. Sie begann sich hin und her zu walken, über die Frau drüber und wieder zurück. Sie brannten beide. Überall waren Flammen und stachen in ihre Augen. Sie schlug gegen jeden Blitz. Plötzlich wurde sie in kaltes Gas gehüllt und sie war für einen Moment blind. Jemand packte ihre Schulter. Sie schrie auf vor Schmerz. Alles tat weh! „Das Seil! Ich fixier dich! Du musst weg hier!“, dröhnte es in ihrem Ohr, ohne dass sie es verstand. Sie verstand gar nichts mehr. Sie war gelähmt vom Schmerz. Jetzt verlor sie auch noch den Untergrund unter ihren Füßen. Und dann war plötzlich alles schwarz.
Sie wachte im Netz auf. Sie atmete schwer. Alles war nass von ihrem Schweiß und der Anzug klebte an ihr. Für einen Moment konnte sie sich nicht bewegen. Ihr Körper war noch immer voller nicht realem Schmerz. Sie hing einfach wehrlos. Was war gerade passiert? Ihr Kopf war nicht fähig klar zu denken. „Liz! Ich bin hier! Du brauchst gar nichts zu machen! Ich hol dich hier raus!“ Sie wurde abgesenkt. Hem tat irgendetwas bei ihrem Arm und er löste sich. Die Kontakte fielen klappernd zu Boden. Er löste vorsichtig das Headset. Irgendwo hinten begannen Leuchten zu blinken. Hem hielt sie einfach nur fest und sank mit ihr zu Boden. So verging eine Ewigkeit. „Bin ich gestorben?“ „Nein! Deswegen hat es auch so lange gedauert, bist du draußen warst.“ Sie spürte Tränen in ihren Augen. Ihre Wangen klebten. Sie klammerte sich an ihn. Es war ihr egal, wer es war, aber sie musste sich jetzt an jemanden klammern. Er küsste sie. Er streichelte sie. „Es tut mir leid! Es tut mir so leid!“ Sie hielten sich beide an einander fest. „Ich hab es noch nie ganz durch geschafft!“ „Was? Ist das noch etwas von deiner Liste!“ „Scheiß auf die Liste! Scheiße, Liz! Scheiße!“

„Lisa! Hammer?“ Sie löste sich vorsichtig. Er ließ ruckartig los. Die freundliche Ärztin, deren Namen ihr einfach immer entweichen wollte, war in den Raum gekommen. Vielleicht hatte sie ihn auch noch nie gehört. All die Namen des Personals waren irgendwie ein Geheimnis. Sie dachte an die Frau im Hochhaus und es schauderte ihr. Das war nicht real! „Gratuliere! Ihr habt es geschafft!“ Hem sprang auf. „Was sollte der Scheiß!“, schrie er die Frau an. Was war jetzt los? Sie kämpfte sich hoch. Sie sah, dass die Ärztin einen Elektroschocker herausgezogen hatte. „Hem, nein!“ Sie packte seine Hand und zog ihn weg. Der Schlag ging ins Leere. Die Ärztin senkte den Blick. „Es tut mir leid! Ihr hattet großen Stress.“ Hem hatte die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. „Das nächste Mal bin ich auch krank“, murmelte er kaum hörbar. Sie nahm seine Hand. Sie sah wieder die Kratzer. Etwas zog sich in ihr zusammen. „Was? Was ist passiert am Schluss?“ „Eine Gasexplosion! Wir werden es später in der Gruppe analysieren und diskutieren. Braucht ihr Einzelbetreuung?“ Sie nickte leicht. Sie verstand das alles nicht. Die Ärztin tippte etwas in ihr elektronisches Notizbuch. „Für mich auch“, meinte jetzt auch Hem. Er öffnete seine Augen wider. Sie waren rot. „Kann ich dafür eine andere Stunde streichen.“ „Ich befürchte nicht! Es wäre besser, wenn du in deinem Zustand vorerst keine der Übungen mehr mitmachst. Wir dachten, dass als Controller der Stressfaktor nicht zu groß wäre. Aber ich glaube, da haben wir uns getäuscht!“ Hem nickte artig. „Heißt dass, du hättest heute gar nicht mitmachen müssen?“ Er schüttelte den Kopf. „Du brauchtest doch jemanden!“ Sie schluckte. Sie verstand das alles noch weniger. „Eure Betreuer sind im Raum G und H für euch bereit. Kann ich noch etwas für euch tun?“ „Bekomm ich einen Kaugummi?“ Die Frau lächelte milde und griff in ihre Tasche. Sie hatte Glück! Gierig griff sie danach. Das war ihre Rettung. „Es war das erste Mal, dass es jemand geschafft hat, bis ganz zum Schluss, oder?“ „Wir sprechen später darüber!“ Hem war jetzt aufgestanden. Er wankte ein wenig. „Ich möchte mich noch umziehen.“ Die Ärztin schien nicht glücklich. „Es wäre wirklich gut, wenn du gleich zum Einzelgespräch gehen würdest!“ „Der Anzug beengt mich“, konterte Hem. „In Ordnung!“ Wieder vermerkte die Ärztin etwas. Das hatten Ärztinnen so an sich. Sie merkte, wie das Nikotin wirkte. „Ja, ich auch!“ Hem torkelte zur Umkleidekabine und sie folgte ihm einfach ohne zu sehen, ob die Ärztin einwilligte oder nicht. Aber wenn sie es Hem erlaubt hatte, dann musste es ja wohl für sie auch in Ordnung sein.
Sie lehnte gegen die Wand. Der Anzug lag zerknüllt zu ihren Füßen. Sie kaute und genoss das Gefühl von Ruhe in ihrem Körper. Auch die Nachwellen des Schmerzes waren vergangen. Sie begann an ihrem Unterarm zu kneten. Eigentlich sollte sie so schnell wie möglich fertig werden. Aber sie hatte keine Lust: keine Lust auf das Einzelgespräch, noch weniger Lust auf die Analyse und auch keine Lust darauf wieder zu Chris zurückzugehen. Sie wollte einfach nur alleine sein. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Sie zuckte zusammen. Hem blickte mit seinen roten Augen ihren Körper von oben bis unten an. Sie hatte nur eine Unterhose an. Mehr hatte sie sich noch nicht übergestreift. Er trug nur sein Gerüst. In der Kabine war nicht wirklich Platz für zwei. Er packte ihr Gesicht. Sein Körper war an ihrem. Er küsste sie. Sie schnappte nach Luft. Er küsste sie noch mehr. Sie verstand nichts mehr. Sie verstand gar nichts mehr. Aber ihr Körper verstand umso besser. Er reagierte wie automatisch, schmiegte und rieb sich an Hems. Ihre Arme schlangen sich um ihn. „Ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich hab dich brennen sehen!“, raunte er zwischen zwei Küssen. „Ich hab dich brennen sehen!“ Jetzt kamen wieder die Tränen und sie kamen heftiger als zuvor. Ihr ganzer Körper vibrierte. Sie schluchzte und stöhnte abwechselnd. Ihr Kopf war komplett leergefegt.
Keuchend lehnten sie gegen die Kabinenwände, er ihr gegenüber. „Scheiße, hast du ein Handtuch da?“ Sie sank zu Boden. Irgendwo musste doch eines sein. Sie hatte doch immer eines dabei. Sie war noch völlig durcheinander. Sie ergriff etwas Flauschiges. „Hier!“ „Warte, wisch dir zuerst deine Tränen ab!“ Sie vergrub ihr Gesicht im Flausch. Dann gab sie es ihm. „Ist das wirklich passiert?“ Was für eine lächerliche Frage war das denn? „Was soll ich jetzt Chris sagen?“ „Gar nichts!“, meinte Hem brutal. „Was?“ Er starrte ihr in die Augen. „Ich habe noch drei, vier Monate! Dafür willst du deine Beziehung nicht aufgeben! Nicht für jemanden wie mich.“ Was war falsch an ihm? Sie lehnte sich zu ihm und küsste ihn. „Hör auf! Zieh dich an! Sie werden uns sicher gleich suchen kommen!“ Sie stießen ständig gegen einander. Es war so eng und sein Körper war so nah. Aber es war nicht unangenehm, im Gegenteil. Alles in ihr war völlig durcheinander. Hem schaffte es die Kabinentür zu öffnen. Im nächsten Moment war er draußen. Sie starrte ihn an: seine O-Beine, seine ungleichmäßigen Arme, das Stützgerüst, seine fettigen Haare. Waren sie wirklich Menschen? Oder dreckige Mutanten?
Sie war schneller fertig als er, aber sie wartete. „Hem, ich versteh nicht, was da gerade passiert ist und ich versteh auch nicht, was im Haus passiert ist. Ich versteh das alles nicht. Und ich brauche dich, damit ich dich verstehen kann!“ Er seufzte. „Besser, du verstehst es nicht!“ „Können wir heute Abend darüber reden?“ „Du wolltest heute den ganzen Abend mit Chris spielen!“ Das hatte sie über alles komplett vergessen. Es war plötzlich auch so unwichtig. Sie stockte. „Dein Betreuer wartet!“ Hem ging vor. „Hem?“, rief sie alarmiert. Er konnte sie doch jetzt nicht so stehen lassen! „Du weißt, wo du mich am Abend finden kannst!“ Sie starrte ihm nach. Sie hörte jemanden an der Tür. Die Türen waren von den Kabinen aus nicht einsichtig. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen. Jemand sagte ihren Namen. Es war unendlich weit weg. „Lisa!“ Die Ärztin hatte ihre Schulter gepackt. Sie schreckte hoch. „Komm, ich bringe dich zu deinem Betreuer!“ Sie starrte die Ärztin an ohne sie zu sehen. Das passierte ihr sonst nie. „Du hattest ein paar schreckliche Erlebnisse. Es tut mir leid!“ Sie nickte abwesend. Die Frau hätte ihr jetzt alles sagen können. „Ich habe gebrannt!“ „Ja, du hast gebrannt, aber das war alles nicht real.“ „Nicht real…“, wiederholte sie. Die Frau war auch nicht real. „Du warst sehr stark und sehr mutig!“ Nicht real! Nichts war real!


© lerche


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