Von einer Ratte zum Rudel

© EINsamer wANDERER

Seline Keil hasste Rʼlyeh-City über alles. Ursprünglich hatte es sie hierher verschlagen um so viel zum Überleben auf der Straße zusammenzuraffen wie es ging.
Zuerst einmal hatte sich die als Niket (ein nach der griechischen Siegesgöttin abgewandelter Spitzname) bekannt gewordene Diebin auf der Straße umgehört. Dort erzählte man sich, dass man für Auskünfte in den Comicbuchladen Kosmische Schrecken gehen sollte. Der dortige Betreiber Scott Grimpil hatte allerlei Informationen über die Stadt in der das Verbrechen gedieh wie biologische Kampfviren auf einer öffentlichen Toilette. Seline bekam in diesem Ramschladen zu hören dass ein Mann namens Young Neil zum unzähligsten Mal im Gefängnis saß.
Young Neil wurde eingesperrt weil er versucht hatte einen Pinguin mit Fliege, Melone, Gehstock und angeklebtem Barte als Charlie Chaplin-Imitator durch die Flughafenkontrolle zu schmuggeln. Während eben jener Neil im Gefängnis saß um über seine mehr als dämlichen Taten nachzusinnen, was er scheinbar überhaupt nicht tat, bekam er mit wie einige Insassen über ein Schiff der Cthulu-Corporation mit wertvoller Fracht sprachen. Dieser gab die Information dann an Grimpel weiter, welcher den Insassen regelmäßig besuchte um mit ihm leckeren Kuchen seiner Mom gegen Informationen zu tauschen.
Und eben jene Information war Seline zum Verhängnis geworden. Zwar hatte sie den Frachter aufspüren können, doch leider hatte sich ein Schläger von hinten angeschlichen und sie verprügelt. Für wem er arbeitete oder ob er die junge Frau nur aus Vergnügen schlug ließ sich nicht sagen. Als die Diebin versuchte zu entkommen jagte ihr der Übeltäter eine Ladung Schrot in den Rücken und brachte sie somit zu Fall. Blutig hustend blieb Niket auf dem rauen Boden des Hafens liegen.
Mit knirschenden Schritten näherte sich der Übeltäter. Er besaß ein typisches Aussehen. Narben, dreckiges Lächeln und eine rauchende Schrotflinte in den plumpen Pranken. Mit der freien Hand packte er die sterbende Diebin am Nacken und hob sie mit Leichtigkeit hoch. Niket sah die baumstammdicken Arme durch die von Tränen verklärte Sicht nur verschwommen jedoch spürte sie ihre überlegene Kraft.
»Na, mein kleines Täubchen? Du siehst aber gar nicht gut aus.« Dabei drehte er ihren kahlgeschorenen Kopf zur Seite, um ihre roten Blutergüsse, blauen Flecken und ausgeschlagenen Zähne besser zu betrachten.
Niket hatte früh gelernt dass es praktischer war mit extrem kurzen Haaren rumzulaufen, da sie zu Anfang ihrer Karriere das Haar immer lang trug und dabei öfters an ihrer Mähne gezogen worden war als sie zählen konnte. Zugegebener Maßen sah es für ein zierliches Mädchen nicht sonderlich aus, aber wenn es ums Überleben ging pfiff Seline auf jegliche Ästhetik.
»Auch wenn deine Fresse zum Kotzen aussieht, so ist alles unterhalb der Schultern ganz niedlich.«
Niket spuckte dem Angreifer Blut und einen Zahn ins Gesicht, wobei letzteres in seinem Auge landete. Darauf folgte eine Reihe heftiger Schläge und Tritte. Nachdem der Kerl Seline fast zu Tode getreten hatte, streifte etwas Flauschiges ihre Hand.
»Komm mit Nigger-Man, wir müssen darauf achten dass nicht noch weitere Ratten die Übergabe stören«, sagte der Mann, doch seine Stimme war als wenn Seline sie wie durch Watte hörte.
Niket spuckte Blut als das Miauen einer Katze an ihre Ohren drang und dann brach nur Schwärze über sie herein. Das Mädchen hatte lange genug auf der Straße gelebt um zu wissen, dass es vorbei war. Zu viele Freunde waren bereits erschossen und totgeprügelt worden und jedes Mal hatte Seline zusehen müssen. Allerdings war ihr bisher auch immer eine Flucht geglückt (daher ihr Spitzname), doch nun schien sie ebenfalls an der Reihe zu sein. Desillusioniert ergab sie sich ihrem unausweichlichen Schicksal.
Doch dann drang eine monströse Stimme in ihre Gedanken, umklammerte mit seinen unsichtbaren Krallen ihr Gehirn und zog daran wie um es auf eine grausame Weise zu massieren und zu befühlen.
Ah, ja. Interessant.
Was soll schon so interessant daran sein?, erwiderte Niket in Gedanken.
Ein interessantes Leben das du da führst.
Führtest, korrigierte Seline. Ich liege im Sterben.
Sterben muss doch verdammt nervtötend sein.
Die Diebin lachte bitter, da diese Stimme scheinbar keine Ahnung vom Sterben hatte. Im Gegensatz zu ihr selbst. Unsterblich zu sein muss aber auch ziemlich langweilig sein.
Die Stimme gluckste. Stimmt. Nach einer längeren Pause meinte sie: Ich mag dich irgendwie. Wie wäre es mit einem Pakt? Ich rette dir das Leben, heile deine Verletzungen im Gesicht und mache dich sogar noch besser.
Wo ist der Haken?
Haken? Es gibt keinen Haken. Ich möchte lediglich deinen Werdegang weiterverfolgen, da du scheinbar eine faszinierende Persönlichkeit besitzt.
Niket lächelte. Sie hatte also die Auswahl zwischen Sterben und den Rest ihres verkommenen Daseins von einer unsichtbaren Stimme bespannert zu werden. Da fiel die Wahl nicht sonderlich schwer. Aber eine Sache verstand sie nicht so recht.
Was meinst du mit „besser“?
Nun, besser halt. Du wirst Sachen können die sonst niemand kann.
Wie zum Beispiel?
Wieso lässt du dich nicht einfach überraschen? Es verdirbt einem doch die Spannung, wenn man von vornherein alles weiß.
Nun gut, du hast mich. Mach mit mir was du willst. Solange ich überleben werde gehe ich darauf ein.
Gut, dann brauche ich hier eine Unterschrift. Vor dem geistigen Auge Selines erschien ein Vertrag in etwas was vermutlich eine fremde Sprache darstellen sollte, doch Niket hatte nie etwas dergleichen gesehen geschweige denn etwas was dem auch nur im Entferntesten ähnelte.
Ich habe keine Kraft um zu kritzeln.
Brauchst du nicht. Dein Wille den Kontrakt einzugehen ist mehr als ausreichend.
Kaum dass sich Seline damit einverstanden gab zu unterzeichnen, erschien ihr Name in ihrer schönsten Sonntagsschrift auf dem Papier.
Damit wäre es erledigt. Ich wünsche dir viel Spaß mit deinen Superkräften und bitte nutze sie so wie du willst. Einen Helden gibt es nämlich schon.
Zwar war sich Seline nicht darüber im Klaren wovon diese Stimmte da sprach, aber solange sie das Mädchen rettete war es ihr egal.
Plötzlich trat ein undeutlicher Schatten in ihr Gesichtsfeld. Es war ein schwarzer Schatten in Gestalt einer gewaltigen Ratte mit rotglühenden Augen. Darauf folgte ein leichtes Zwicken. Aber abgesehen davon blieb alles beim Alten. Seline lag mit dem Gesicht im Dreck und verblutete. Dann spürte sie wie ein Blutschwall sich seinen Weg ihren Hals hinauf bahnte. Seltsamerweise bewegte sich das Blut. Es fuhr mit seinen kleinen krallenbewehrten Pfoten über ihre Zunge. Niket staunte nicht schlecht als eine mit Blut verschmierte Ratte aus ihrem Mund krabbelte.
Ich wusste doch, dass dieses Chinarestaurant nicht sauber war. Dies war alles was sie in ihrem Zustand erdenken konnte, da der Tod weiter an Körper sowie Seele nagte und somit ihre Sinne verwirrte. Und für entsetzen war sie viel zu geschwächt.
Jedoch blickte Seline verwundert zu der Ratte hoch. Sie sah sich selbst durch die Augen der Ratte hindurch. Und das Tier wusste was Seline sah und dachte. Ungeziefer und menschlicher Abschaum waren eins. Eins in Körper, Geist und Seele.
Ein plötzlicher Krampf machte sich im Magen der Diebin breit. Es fühlte sich an als wenn unzählige kleine Leiber sich in ihrem Bauch tummeln würden. Wenn Niket genau hinhörte vernahm sie das Fiepen eben jener Menge an Ratten in ihrem Inneren. Aber das wohl entsetzlichste war, dass sie diese Ratten war. Sie war es die in ihrem dunklen Magen um ihr Leben kletterte, während ihre kleinen Krallen an den schleimigen Darmwänden abrutschten.
Und es kamen immer mehr dieser Sinneseindrücke bei ihr an. Sie war die Ratten und die Ratten waren sie. Kaum dass sie dies erkannte formten sich ihre Augen um, wurden pelzig bekamen Zähne und schwarze Knopfaugen.
Seline schrie ob des Grauens, aber ihr Schrei erstickte als ihr Körper vollends als ein Rudel Ratten auseinanderstob, welche ihre Verwirrung sowie Verängstigung laut in den Nachthimmel fiepten.
»Hallo? Was ist denn hier los? Hat jemand die Kleine im Sterben vergewaltigt?«, fragte der Mann mit der Schrotflinte, der aufgrund des Lärms zurückgekehrt war.
Das Fiepen verstummte. Alle Ratten sahen den grobschlächtigen Kerl an, den sie als Verursacher ihrer Pein ansahen. Voller Wut und Hass stürmte das Rudel auf den Mann ein, der sich vor lauter Ekel und Entsetzen kaum rühren konnte. Zwar feuerte er mehrfach mit seiner Schrotflinte nach den kleinen Nagern doch die Körnchen vermochten nicht sie zu treffen.
Der Langhaarkater Nigger-Man unterdessen sah keinen Anlass einzuschreiten. Im Gegenteil. Er schnappte sich einen der Nager und begann damit ihn abzuschlecken. Seinem nicht zu unterbietenden Interesse am Schicksal seines Herrn war zu entnehmen dass dieser nicht gerade nett zu seinem braunschwarz bepelzten Kameraden war.
Die eingefangene Ratte unterdessen ließ es sich gefallen vom Stubentiger liebkost zu werden, während der Rest des Rudels im Hintergrund den Mann zu Tode biss und nichts weiter als einen Haufen zerfetztes Fleisch und angenagte Klamotten übrig ließ.
Kaum dass die Ratten sich wieder zusammengefunden hatten und sich gegenseitig abklatschten, durchzuckte das Kollektiv ein Gedanke vollgepackt mit wichtigem Wissen über ihren Zustand und ihre Verwandlung. Wie in Trance setzten sich die Ratten zusammen kletterten übereinander und formten einen pelzigen Berg.
Seline spürte wie ihr menschlicher Körper immer mehr Kontur bekam und sich die kleinen Nager die sie selber war wieder mit ihr verbanden. Schließlich als die letzte Ratte ihr Loch im Bein schloss war sie wieder die Alte. Jedoch fühlte sie sich anders; besser. Als wäre sie auf einmal viel mehr als vorher. Allerdings wollte sie sich zuerst versichern dass sie wirklich wieder die Alte war. Sie tastete mit ihren Händen den gesamten Körper nach Fell ab. Doch sie spürte nur den Stoff ihrer Kleidung. Auch war nach längerem Tasten keine Spur von einem nackten Schwanz über ihrem Hintern zu finden. Als sie jedoch mit ihrer Zunge über die wieder normalen Kronen fuhr, merkte sie deutlich dass ihre ausgeschlagenen Zähne wieder da waren. Ebenfalls waren ihre Haare wieder lang, doch statt einer rötlichen Farbe waren jene nun so dunkelbraun wie das Fell eben eines dieser Nagetiere. Als sie jedoch stöhnte und bereits überlegte wie sie nun auf die Schnelle wieder ihren Schädel kahlrasieren könne, zogen sich die Haare wie von selbst zurück.
Niket wusste nicht wie lange sie so auf den Knien dasaß; innerlich schwankend zwischen Euphorie und Wahnsinn. Die Stimme hatte tatsächlich ihren Teil der Abmachung eingehalten. Dann lag es nun an ihr selbiges zu tun und so viel Spaß wie möglich zu haben. Sie nahm die blutige Schrotflinte aus den kalten Händen des Toten, sowie den Kater Nigger-Man der sie freudig abschleckte und sie nun als seine Herrin zu akzeptieren schien.
Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen schritt sie in Richtung Frachter der den Geruch von reicher Beute trug.
Seline Keil hatte Rʼlyeh-City über alles gehasst. Doch nun begann sie diese Stadt zu lieben. Nun da sie alles tun und lassen konnte, was ihr beliebte. Wer würde sie schon aufhalten wollen, geschweige denn können?

The End


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Von einer Ratte zum Rudel"

Über ein Mädchen und ihre etwas ungewöhnliche Superkraft.

Link zu Es ist nicht leicht ein (Super-)Held zu sein: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/44646/Es-ist-nicht-leicht-ein-Super-Held-zu-sein/
Link zu Der Detektiv mit dem Geisterarm: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/44705/Der-Detektiv-mit-dem-Geisterarm/
Link zu Die Kunst des surrealen Tötens: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/44729/Die-Kunst-des-surrealen-Toetens/
Link zu Die Macht des Limbos: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/44750/Die-Macht-des-Limbus/
Link zu Nackt gestrandet: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/44794/Nackt-gestrandet/




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