Hammer

Er stand vor dem Spiegel und starrte dem Gnom an, der darin stand. Er hatte fettige graublonde Haare bis zu seiner Schulter. Er war seltsam in sich zusammen gesunken. Er sah blass aus, ungesund. Das grelle Licht des Badezimmers half nichts um das Gesamtimage auf zu bessern. Was hatte die Ärztin in ihm gesehen? Was hatte sie veranlasst von seinem Leben als „die Sache“ zu reden? Das war sein Leben, sein beschissenes Leben, aber trotz allem sein Leben. Er wollte es. Er wollte seine Intensität. Er nahm in einer Sekunde seines Lebens tausendmal mehr war, als diese Ärztin. War da sein Leben nicht tausendmal mehr wert als das der Ärztin? In jeden Fall konnte sie ihn nicht behandeln, als wäre es nichts wert. Er war kein weiteres fehlgeschlagenes Experiment. Er war ein Mutant. Aber in Wirklichkeit war er einfach nur ein Mensch. Er war genauso ein Mensch, wie die Ärzte, die Krankenschwestern und Pfleger oder die Menschen, die er in all den Jahren gerettet hatte. Er hatte sein Leben für die Menschen in den eingestürzten Bauwerken gegeben. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Hatten es die Menschen gedacht? Haben sie in dem Moment, als er sie befreit hatte, gedacht, dass er nur ein Mutant war, dass es nur rechtens war, dass er sein Leben für sie riskierte. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was die Menschen außerhalb des Instituts über sie dachten, über den hässlichen Gnom im Spiegel. Er starrte. Plötzlich fuhr seine Hand vor. Seine Finger ballten sich zu einer Faust. Der Aufschlag wurde in seinen ganzen Körper reflektiert und zog durch ihn hindurch wie eine Welle aus Schmerzen. Der Gnom zersprang in tausende Stücke. Er starrte auf sie, verfolgte sie, wie sie durch das Badezimmer flogen, wie sie sich in seine Hand bohrten, bis hinauf auf seinen Unterarm. Er hätte ihn wegziehen können. Aber er wollte nicht. Er starrte einfach, wartete, bis jeder einzelne Teil des Gnoms auf dem Boden lag.
Sein Arm hatte aufgehört zu bluten. Sorgsam wusch er das ganze Blut, das in sein Waschbecken getropft war, hinunter. Die Schnitte begannen zu brennen. Er hatte Unmengen an Medikamente. Aber er hatte keinen einzigen Streifen Verbandmaterial. Er hatte gerade einmal ein paar Pflaster. Morgen, wenn er zu seiner Besprechung auftauchte, würden sie es registrieren, in die unendlichen Listen einfügen, in denen sie sein ganzes Leben dokumentiert hatten. Sie würden eine Putzfrau schicken, die alle Scherben wegräumte. Danach würden sie einen neuen Spiegel hinhängen, so als wäre nichts gewesen. Wenn er sterben würde, würde man dann auch einfach das Zimmer ausräumen, seine Bücher weg tun und alles so herrichten, wie es vorher gewesen war. So als hätte es ihn nie gegeben. Der Gedanke schauderte ihn. Er musste Sheila sagen, dass sie sich darum kümmern musste. In den Büchern war seine Seele. Sheila würde das verstehen. Sie war selber eine Künstlerin. Er musste eine Liste machen. Er musste sich überlegen, was er alles noch tun wollte, bevor er starb. Er wusste, die Liste war lang. Er wusste, den Großteil, würde er nicht tun können, nicht weil es zu lange dauerte oder wirklich kompliziert war, sondern, weil er hier eingesperrt war. Die Wände des Badezimmers drangen auf ihn ein. Jetzt, wo der Spiegel zerstört war, wirkte das Zimmer noch kleiner als es sowieso schon war. Plötzlich bekam er keine Luft mehr, so als hätte sich ein Splitter in seinen Hals festgelegt. Er hustete, würgte, schmeckte bittere Galle. Er musste hier hinaus. Er brauchte frische Luft.

Lisa

Sie schlug die Beine über einander und schloss die Augen. Ihre Finger rieben an ihrer Schläfe. Das half ein wenig. „Süße, du bist ein Star!“ „Hör auf mit dem Scheiß!“ Sie sprang wieder auf. Sie konnte nicht ruhig sitzen. Ihre Nerven waren blank. „Komm her, setzt dich! Wie du über das Lebenretten redest. Es ist herzergreifend!“ „Es kotzt mich an!“ So schnell, dass es nicht einmal er kommen sah, hatte sie die Fernbedienung in der Hand und das Fernsehbild erlosch. „Es ist scheiße genug zu wissen, dass man sterben wird, bevor man richtig gelebt hat und das auch noch auf die eher hässliche Art und Weise. Da muss ich nicht auch noch so beschissene Fernsehauftritte haben, wo ich darüber erzählen darf, wie toll das nicht alles ist!“ Sie schäumte über. Sie pfefferte die Fernbedienung auf die Couch und lief aus dem Raum. Sie brauchte Luft. „He, Süße!“, schaffte er es ihr noch nach zu rufen. „Das nächste Mal sollen sie dich schicken!“
Sie trat hinaus vor die Institutstür. Es schüttete. Die Institutslampen tauchten alles in seltsames Licht. Sie brannten Tag und Nacht. Das Licht nervte. Alles nervte. Sie entdeckte Hem, der an der Hauswand lehnte und sich versuchte unsichtbar zu machen. Sie stellte sich neben ihn und starrte in den Regen hinaus. Es war kalt. Sie zitterte leicht. Aber es war ihr egal. Sie atmete die frische Luft. Nie war die Luft so frisch, wie während des Regens. „Hast du noch welche?“, fragte sie noch immer leicht gereizt. Hem bewegte sich träge, zumindest für ihren Standard. Seine Hände vergruben sich in seine Jackentaschen. „Mit oder ohne?“ „Mit natürlich!“ Was für eine blöde Frage! „Es gibt einen Grund, wieso wir Wochenrationen bekommen.“ „Gibst du mir jetzt was oder nicht?“ Er fuhr mit der Hand aus der Tasche, prüfte die Aufschrift und hielt ihr dann die Kaugummis hin. Gierig griff sie danach und warf sich einen ein. Die Packung gab sie nicht gleich zurück. Hem seufzte. „Ich hab noch eine!“ „Das ist erst deine erste?“ „Nicht jeder ist so süchtig wie du!“ Hem zuckte mit den Schultern. „Es ist schließlich erst Donnerstag.“ Er schloss die Augen und sank noch mehr in sich zusammen. Hem hatte einen ultraflexiblen Körper. Seine Knochen bestanden nicht aus dem üblichen Knochenmaterial. Deswegen musste er ständig ein Stützgerüst tragen. Das war nicht lustig. Anderseits konnte er alles zwischen 155 cm und 180 cm groß sein. Das konnte schon sehr praktisch sein, wenn er von hohen Regalen etwas runterholen musste oder so wie jetzt das Unsichtbarkeits-Spiel spielte. Wenn er so in sich zusammen sank, war er eher ersteres. Seine fettigen, graublonden Haare hingen ihm ins Gesicht und er wirkte irgendwie müde. Er hatte ständig Schmerzen. In einem schwachen Moment hatte er das einmal erwähnt. Sie kaute und das Nikotin begann langsam zu wirken. Das beruhigte sie. Nikotinkaugummis waren das einzige, das sie von geladenem Zustand wieder herunter brachte. Sie fühlte sich fast ständig geladen, so wie auf 180 Volt. Deswegen brauchte sie auch so viele. Hem war nicht der einzige, von dem sie sich ständig welche borgte. Aber Hem war immer so ruhig und er brauchte nicht so viele. Von ihm bekam sie fast immer welche.
„Wie war der Auftritt heute?“ Sie zuckte ein wenig zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Hem sie darauf ansprechen würde. „Furchtbar! Chris schaut es sich immer wieder und wieder an. Er meint, ich wäre der neue Star!“ „Du machst den Job gut!“ „Ich hasse den Job!“ Er zuckte mit seinen Schultern, auf seine seltsame unregelmäßige Art. Sie kaute heftiger, versuchte das letzte Bisschen Nikotin aus dem Kaugummi heraus zu quetschen. Wieso waren die Dinger so schnell aufgebraucht? „Das sind zwei verschiedene Sachen!“ „Das ist mir scheißegal! Ich hasse es! Ich hasse es! Ich hasse es!“ Hem legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie atmete tief ein und aus. „Vielleicht will er dich einfach nur ansehen!“ „Aber ich bin doch hier! Dann soll er mich hier ansehen! Dann muss er nicht den Scheiß ständig abspielen!“ Sie hatte geschrieen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Hem schloss jetzt seine Hand um ihre Faust. „Es ist nicht dasselbe! Komm wieder runter! Brauchst du noch einen Kaugummi?“ Sie nickte. Es war in Ordnung. Alles war in Ordnung. „Es ist nur, manchmal will ich mich nicht sehen!“ „Ich weiß, ich möchte mich manchmal auch nicht sehen!“ Er hob seine andere Hand. Sie war voller Kratzer! Ein paar waren mit Pflaster überklebt. Sie schluckte. „Das war mein Spiegel!“ Schockiert griff sie nach seiner Faust und bettete sie zwischen ihren Handflächen. Seine Hand war warm. Ihre waren kalt. Sie war immer kalt. Er hatte das absichtlich gemacht. Jeder von ihnen war in der Lage die Splitter zu sehen und ihnen aus zu weichen. Seine Hand hätte nicht so viele Kratzer abbekommen dürfen. „Du wirst Ärger bekommen!“ Er schüttelte den Kopf. „Und was sollen sie tun? Es gibt nicht viel mit dem sie mir drohen können!“ Er lachte plötzlich. „Das Schlimmste, was sie machen können, ist mir einen neuen hinhängen!“ Er grinste leicht. Gleichzeitig zog er seine Hand aus ihren Händen. Aber sie ließ ihn nicht los. „Du glaubst, du bist der einzige, der verrückte Sachen machen kann!“ Plötzlich war ihre Stimmung komplett übergeschwappt. Euphorie erfüllte sie. Sie ließ ihn los und machte ein paar Schritte nach hinten. Seine Mundwinkel sackten nach unten. Aber ihr war das egal. Sie schwang sich herum und rannte hinaus in den Regen.
Sie drehte und drehte und lachte schrill. Der Regen klopfte schwer auf ihren Kopf und die Schultern. Sie spürte jeden einzelnen Tropfen einschlagen. Schnell war sie durchnässt und kalt. Es war ihr alles egal! Sie öffnete alle ihre sensorischen Kanäle. Sie drehte und drehte. Schon lang nicht mehr hatte sie sich so lebendig gefühlt. Sie wollte leben. Sie wollte die Welt! Irgendwann hielt ihr Körper nicht mehr mit und ihre Beine knickten ein. Sie fiel. Doch bevor sie den Boden berührte war Hem plötzlich neben ihr. „Du spinnst!“, schrie er ihr entgegen. Sie lächelte glücklich. Hem nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Hem war ihr Großvater. Hem gab immer auf sie acht. Er hätte sie zurücktragen können. Das hätte zu ihm gepasst. Stattdessen stand er einfach nur da und ließ sich durchnässen. Hem war warm, aber er wurde schnell kälter, so kalt wie sie. „Was machst du für Sachen!“ Seine Hände ergriffen ihr Gesicht. Er lächelte sie an. Sie sah jeden einzelnen Regentropfen, der von seiner Nase tropfte. Sie sah jede Regenrinne, die über sein Gesicht lief. Er sah schlecht aus. Sie wusste nicht, wieso sie daran dachte. Es fiel ihr jetzt so richtig auf. Er sah viel schlechter aus als sonst, so müde. Seine Hände waren jetzt so kalt, dass sie kaum noch Wärme abstrahlten. Das Licht der Beleuchtung war seltsam und schaffte es kaum den Regen zu durchdringen. Die ganze Situation war irgendwie seltsam. Er fuhr vor um sie zu küssen. Sie begriff es im selben Moment und fuhr zurück. Er hielt sie fest. Seine kalten Lippen berührten ihre flüchtig. „Was!“ „Was?“ Er ließ sie los. Sie schwankte. Er nahm ihre Taille um sie zu stabilisieren. Sie starrten sich an. „Was?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte ein Mädchen küssen. Das ist auf meiner langen Liste, die ich noch machen will, bevor ich sterbe!“ „Spinnst du?“ „Ich sterbe!“ „Wir alle sterben!“ „Genau, jeder Tag im Leben ist nur ein weiterer Tag sterben, ich weiß! Ich meine das ernst!“ Sie starrte ihn an. Ihr dämmerte, was er ihr sagen wollte, aber sie konnte es erst akzeptieren, wenn er es direkt aussprach. „Ich habe meine Profunde bekommen!“ Sie schluckte. „Wo?“ Er deutete auf seine Schläfe. Sie fuhr mit den Händen zu ihrem Mund. Er drückte sie an sich. „Schon gut! Schon in Ordnung!“ Sie stemmte sich weg. Das war nicht wahr! Sie lebten damit jeden Tag. Sie wussten, dass der Tod früher kommen würde, als bei anderen Menschen, viel früher. „Nichts ist in Ordnung! Das ist nicht in Ordnung!“, schrie sie gegen seine Brust. „Es ist nicht in Ordnung! Aber es ist unser Schicksal!“ Das war so leise, dass sie es kaum verstand. „Wie lange?“ Er zuckte mit den Schultern. Sie nahm ihn in die Arme. „Du musst es den anderen sagen!“ „Nein, wenn du es weißt, reicht mir das. Wenn du mich festhaltest reicht mir das!“ „Du musst! Du musst!“ „Bitte, Liz! Wir werden noch krank! Lass uns zurückgehen!“
Sie sah Chris, bevor er sie sah. Er stand vor der Tür und blickte unruhig hinaus. Als sie durch den Regen brachen atmete er erleichtert aus. „Ich habe dich nicht mehr gesehen!“ Hem griff unbeteiligt nach den zwei Handtüchern, die er hergerichtet hatte. Auf ihn war immer Verlass. Was würden sie tun, wenn er nicht mehr da war? Das war so unvorstellbar. Er warf das zweite Handtuch ihr hin. Chris wollte sie umarmen. Sie wich ihm aus. „Chris, ich bin völlig durchnässt!“ Er griff nach ihrer Hand. „Und du bist ganz kalt!“ Er warf Hem einen vorwurfsvollen Blick zu. „Dein verrücktes Mädchen hat geglaubt, sie muss im Regen tanzen!“, erklärte er ungerührt. „Wieso hast du sie nicht aufgehalten?“ „Wieso hast du sie nicht aufgehalten?“, konterte Hem. „Komm, hört auf! Ich brauche eine heiße Dusche und du, Hem, solltest das auch machen. Du bist nicht mehr der Jüngste!“ Sie grinste. Er grinste zurück. „Wart nur ab bis du 25 bist!“ Er rieb sich mit dem Handtuch die Haare trocken und trat gleichzeitig ins Institut ein. „Tut mir leid!“, meinte Chris etwas geknickt. Sie griff ihm in den Nacken und zog ihn an sich heran. Dann küsste sie ihn. Aber ihre Gedanken waren noch ganz woanders. Sie brauchte Ablenkung. „Willst du mit in die Dusche?“


© lerche


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Medus - Teil 3"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Medus - Teil 3"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.